Um 1720 suchte die Pest Europa heim. Unter Einwirkung dieser Geißel gerieten die europäischen Gesellschaften aus den Fugen. Über einen Monat kreiste das überfällige Schiff aus Beirut, die Grand-Saint-Antoinette, im Mittelmeer, bat um Durchfahrterlaubnis und wollte in Italien oder Frankreich anlanden. Doch der Vizekönig von Sardinien erteilte die Erlaubnis nicht, es bestand der Verdacht, dass Fälle von Pestkranken an Bord seien. So ließ er dem Schiff übermitteln, dass es doch unverzüglich abziehen möge, sonst würde er es durch seine Kanonen versenken lassen.
Am 1. März 2025 wurde die Notruf-Hotline Alarm Phone über einen schweren Seenotfall informiert: 32 Personen, darunter mehrere Minderjährige und zwei Kinder, befanden sich in einem seeuntüchtigen Schlauchboot in der Überschneidung der maltesischen und tunesischen Such- und Rettungszone in Seenot. Obwohl Alarm Phone den Seenotfall an die tunesischen, maltesischen und italienischen Behörden weiterleitete, koordinierte keine der zuständigen Behörden die Suche- und Rettung gemäß internationalem Recht.
Die heutigen Flüchtlinge, die über das Meer nach Europa kommen, sind – aus Sicht der europäischen Regierungen – die Pestkranken unserer Tage. Europa schließt seine Abwehrkette gegenüber den potentiellen Störfaktoren. Unabhängig von der Frage, dass die Migrationsproblematik grundsätzlich nicht zu einer Überlastung des Kontinents führen darf, stehen gerade im Bereich der Fluchtrouten über den Seeweg jedoch humanitäre Fragen zur Disposition: wie unmenschlich können Weisungen sein, die sich über den einfachsten Respekt vor dem Menschenleben und alle internationalen Konventionen hinwegsetzen?
Im Jahr 2025 (Stand: 30. März 2025) sind mindestens 386 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben. Seit dem Jahr 2014 sind bis zu diesem Zeitpunkt rund 31.766 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken. Maltas Unterlassung im obigen Beispiel, Seenotfälle zu koordinieren und Menschen in Seenot zu retten, ist systematisch und gefährdet regelmäßig Menschenleben.
Am 3. März 2025 reichten die Organisationen UpRights, StraLi und SOS Humanity im Namen der Personen in Seenot gemeinsam einen Antrag auf Erlass vorsorglicher Maßnahmen beim Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen ein. In dem Antrag wird Malta aufgefordert, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um einen Such- und Rettungseinsatz zu koordinieren und sicherzustellen, dass die Menschen in Seenot gerettet werden und am nächstgelegenen sicheren Ort an Land gehen. Malta hat auf keine Mitteilung zu dem Notfall reagiert, obwohl es vom UN-Menschenrechtsausschuss angewiesen wurde, die Suche und Rettung zu koordinieren.
Die Menschen waren mit einem seeuntüchtigen Schlauchboot von Zuwara in Libyen aufgebrochen. Sie waren bereits in einem kritischen Zustand, als sie Alarm Phone kontaktierten (Alarm-Phone ist ein seit 2014 betriebenes Projekt von Freiwilligen aus Europa, Tunesien und Marokko, das sich für die Seenotrettung von Flüchtlingen einsetzt). Die Menschen hatten seit Tagen nichts gegessen und mussten heftigen Wind und starke Strömungen durchstehen. Die Plattform befindet sich im Golf von Gabès, in internationalen Gewässern, wo sich die maltesische und tunesische Such- und Rettungszonen überschneiden. Am Nachmittag des 4. März rettete das von Sea-Watch betriebene Rettungsschiff Aurora schließlich die 32 Personen.
Der Antrag beim UN-Menschenrechtsausschuss wurde im Namen der 32 Personen in Seenot gestellt, mit der Aufforderung, vorsorgliche Maßnahmen zu erlassen, die Malta verpflichten, unmittelbaren und irreparablen Schaden am Recht auf Leben sowie das Verbot von Folter und anderen Formen der Misshandlung (Artikel 6 und 7) zu verhindern, wie sie im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) verankert sind. Am 4. März 2025 forderte der Menschenrechtsausschuss Malta in einer Entscheidung auf, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Suche und Rettung der 32 Personen in Seenot zu koordinieren, „um sicherzustellen, dass sie nicht an einem Ort von Bord gebracht werden, an dem sie der Gefahr von Folter und anderen Formen der Misshandlung oder Lebensgefahr ausgesetzt sind”. Die Entscheidung des Ausschusses verpflichtet nun Malta, den Ausschuss über die ergriffenen Maßnahmen zu informieren.
Erschütternde Dokumentationen
Der Schritt des UN-Menschenrechtsausschusses ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Wenngleich nur ein Miniatur-Fortschritt, denn: die Praxis, wie Europa seine Küsten verteidigt, spricht immer noch eine andere Sprache. Hier wird nicht nur Hilfe unterlassen, sondern aktive Rückführung betrieben. Migranten und Flüchtlinge, die die Ägäis überqueren, beschreiben, dass sie in griechischen Hoheitsgewässern abgefangen oder verhaftet wurden, nachdem sie an den griechischen Küsten angekommen waren, geschlagen, ihres Besitzes beraubt und dann gewaltsam auf Rettungsflösse ohne Motor geladen und zurück zur türkischen Küste trieben.
Die investigative Künstlergruppe Forensic Architecture in London hat die neue Methode der gewalttätigen und illegalen Abschreckung, die seit 2020 praktiziert wird, die sog. „Drift-Backs“ untersucht. „Drift-Backs“ sind in der gesamten Ägäis, so Forensic Architecture, zu Routineereignissen geworden, die oft zu Verletzungen und Ertrinken führen. Heute nimmt das Ausmaß und die Schwere der Praxis weiter zu, wobei „Driftbacks“ von der Küste des griechischen Festlandes und bis weit südlich von Kreta gemeldet werden. „Drift-Backs“ sind offensichtlich illegal und verstoßen gegen internationale Protokolle, einschließlich der unveräußerlichen Rechte, Asyl zu beantragen und auf See Rettung zu suchen. Trotz zunehmenden Drucks leugnen die griechischen Behörden bis heute, dass in der Ägäis „Drift-Backs“ stattfinden. Die Ägäis ist nicht nur ein Hotspot für staatliche Gewalt, sondern auch ein Testlager für Möglichkeiten, sie zu verschleiern. Ganze maritime Zonen, militarisierte Inseln und unbewohnte Felsen, heißt es in einem Bericht von FA, bleiben für zivilen Zugang und Aufsicht gesperrt und werden ausschließlich vom Militär und der Küstenwache navigiert und verwaltet. Retter, Aktivisten und Journalisten, die in der Region operieren und über Menschenrechtsverletzungen berichten, wurden von den Behörden wiederholt kriminalisiert und eingeschüchtert. Migranten, die dort abgefangen werden, werden ihre Telefone weggenommen und zerstört, bevor sie selbst verschwinden.
Die griechische Küstenwache mobilisiert die Richtung der Meeresströmungen und setzt „Drift-Backs“ ein, um Asylbewerber zu vertreiben, ohne türkische Hoheitsgewässer betreten zu müssen. Stattdessen führen natürliche Prozesse und geografische Merkmale des ägäischen Archipels – Strömungen, Wellen, Winde und unbewohnte Felsen – die Vertreibung durch und distanzieren die Täter von den Auswirkungen ihrer tödlichen Handlungen. Diese natürlichen Prozesse bieten diesen Tätern ein Maß an Verleugbarkeit und schützen sie vor der Rechenschaftspflicht.
Das Kollektiv Forensic Architecture aus London, die nun auch einen Berliner Ableger haben, sammelt Beweise, analysiert das Material und präsentiert diese der Öffentlichkeit. Denn für manche Themen, so der Gründer von FA, der britisch-israelische Architekt Eyal Weizman, ließe sich schwer öffentliche Aufmerksamkeit herstellen, und das brutale Grenzregime, das die Flüchtenden auf dem Mittelmeer von Europa fernhalten soll, gehört dazu. Die Methode des Recherchekollektivs besteht in der Ansammlung von Daten, die mittlerweile immer stärker verfügbar werden. Mit Kamera, Mikrofon und Ortungsdiensten lassen sich Daten sammeln, vernetzte und am Ende visualisieren, hier kommen auch gestaltende und künstlerische Kompetenzen ins Spiel.
Die Plattform von Forensic Architecture macht aus jedem Fall des absichtlichen Wegtreibenlassens einen Eintrag. Über einen Zeitraum von drei Jahren, von 2020, als der erste Drift-Back-Fall gemeldet und dokumentiert wurde, bis 2023, versammelt diese interaktive kartografische Plattform Beweise für 2.010 Drift-Backs allein in der Ägäis. 26 tiefe „Driftwoodbacks“ wurden aufgezeichnet, so Forensic Architecture, was bedeutet, dass Asylbewerber tief in griechischen Gewässern abgefangen wurden, bevor sie an die Grenze gebracht und im Treiben zurückgelassen wurden. FRONTEX, die europäische Grenz- und Küstenwache, war wohl direkt an 122 dieser Fälle beteiligt, während sie von 417 Kenntnis hat, nachdem ihren eigenen operativen Archiven als „Einreiseverhinderungen“ maskiert wurden.
Das Material der Ausforschungen von FA und seinem Berliner Büro Forensis (und anderen Partnern) stammt aus vier Hauptquellen: den Überwachungsbemühungen von AlarmPhone Aegean und Aegean Boat Report, die Bilder und Standortnadeln direkt von Asylbewerbern erhalten, die die Ägäis überqueren; die eigene JORA-Datenbank (Joint Operations Reporting Application) von FRONTEX, die Website der türkischen Küstenwache, die die treibenden Schiffe dokumentiert, von lokalen Beobachtern, Medien und Aktivisten sowie von journalistischen Quellen wie Bellingcat, Lighthouse Reports, Der Spiegel, BBC, Al Jazeera und der New York Times. Interviews mit Überlebenden und Verwandten ergänzen die Statistik.
Kann ein Staat Menschen einfach verschwinden lassen?
Die Strafrechtlerin Georgia Stefanopoulou (Hannover) blickt mit Sorge auf die aktuellen Entwicklungen. Das Problem ist allethalben nicht gelöst, sondern verschärft sich derzeit sogar. Auslöser dieser Beobachtung ist eine Ende 2024 veröffentlichte Mitteilung der Europäischen Kommission. Sie war an das Europäische Parlament und den Rat gerichtet. Im Kern ging es um die „Abwehr hybrider Bedrohungen infolge des Einsatzes von „Migration als Waffe“ und die Stärkung der Sicherheit an den EU-Außengrenzen“. Migration wird häufig missbraucht und als Taktik hybrider Kriegsführung eingesetzt, lautet das Hauptargument der Kommission zur Rechtfertigung einer strengen Grenzpolitik. Diese könnte, so die Hannoveraner Juristin, das individuelle Asylrecht stark einschränken bzw. beseitigen, indem Pushback-Praktiken unter Umständen als legitim betrachtet werden können. Anders gesagt: Durch die unbelegte Annahme einer „zukünftigen Berdrohung“ wird das Schutzniveau geflüchteter Personen nach internationalem Recht erheblich abgesenkt und den Seenotrettern das Engagment schwer gemacht, da ihre Aktionen nun noch stärker in einem rechtlichen Graubereich erfolgen.
Der Rechtsrahmen sieht so aus: Laut Kommission können Mitgliedstaaten „die zur Wahrung der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung erforderlichen Maßnahmen ergreifen, wenn eine große Zahl von Migranten versucht, ihre Außengrenzen unerlaubt, massenweise und gewaltsam zu überschreiten“. Das sei zwar eine Ausnahmesituation. Doch große Menschenmengen, die die Grenzen illegal und gewaltsam überschreiten wollen, stellen nach der EU-Kommission eine solche Gefahr für die innere Sicherheit dar. Daher sei es den Mitgliedstaaten erlaubt, geeignete Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Problematisch sei dies, so Stefanopoulou, aber nicht nur im Kontext des Asylrechts, sondern auch im Hinblick auf den Schutz, geflüchtete Menschen vor dem gewaltsamen Verschwindenlassen zu schützen.
Was ist Verschwindenlassen? Gehen Geflüchtete einfach verloren? Jedes Jahr sterben viele tausend Menschen entlang der weltweiten Migrationsrouten beziehungsweise werden vermisst. Das Risiko für Migranten, Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen zu werden, ist hoch. Gründe hierfür sind zum Beispiel die immer restriktiveren Grenzkontrollmaßnahmen verbunden mit Freiheitsentziehung, eben die Push-backs und Kettenabschiebungen, eine systematische Unterlassung von Such- und Rettungsaktionen oder die unzulässige Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und organisierten kriminellen Gruppen, die Menschenhandel betreiben. Auch dass Menschen sich auf immer gefährlichere Routen begeben müssen und auf kriminelle Schleuser und Menschenhändlernetzwerke angewiesen sind, um ihr Ziel zu erreichen, birgt die Gefahr, Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen zu werden.
Wir bringen dieses Verschwindenlassen zunächst nicht mit Europa in Verbindung. Eher vielleicht Afrika, Süd- oder Mittelamerika. In Mexiko etwa stellt das Verschwindenlassen eine massive und systematische Praxis dar. Anfang 2024 gab es laut offiziellen Zahlen über 110.000 Verschwundene. In der deutschen und internationalen Politik ist spätestens seit dem Verschwinden von 43 mexikanischen Studenten bekannt, worauf mexikanische Menschenrechtsorganisationen seit vielen Jahren aufmerksam machen. Von den Behörden alleingelassen müssen die Angehörigen der Opfer tagtäglich mit der Ungewissheit über das Schicksal der Verschwundenen zurechtkommen. Ob willkürlich festgenommen, entführt, gefoltert oder hingerichtet: Kaum ein Fall wird strafrechtlich verfolgt, kaum ein Opfer taucht wieder auf. Die Angehörigen kämpfen meist allein für die Aufklärung, gegen das Vergessen und für die Rückkehr in ein normales Leben.
Die Dramatik der vielen Verschwundenen und die niedrige Aufklärungsrate dieser Straftaten spiegelt die nicht funktionierende Rechtsstaatlichkeit in Mexiko wider. In der Außendarstellung des Staates wird das Verbrechen des Verschwindenlassens stattdessen häufig minimalisiert und der organisierten Kriminalität zugeschrieben.
Verschwindenlassen bedeutet – in juristischer Formulierung – „die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird“. Zunächst muss also eine Person ihrer Freiheit beraubt werden. Danach muss es dazu kommen, dass der Verbleib der Person nicht bekannt gegeben wird. Staatliche Akteure müssen hierbei involviert sein, der Staat begeht das Unrecht. Das Verschwindenlassen kann systematisch oder sporadisch erfolgen.
»Europa müsste dafür sorgen, dass es gar nicht erst zu einem Verschwinden kommt.«
Dieses Verschwindenlassen ist also im Grunde ein Straftatbestand, jedenfalls fast. Der Ausschuss gegen das Verschwindenlassen (Committee on Enforced Disappearances) hat zuletzt im April 2023 festgestellt, dass es eine Verpflichtung gäbe, einen selbstständigen Straftatbestand des „Verschwindenlassens“ im staatlichen Recht zu schaffen. Also auch z.B. in Deutschland. Das geltende deutsche Recht kennt jedoch keinen eigenständigen Straftatbestand des Verschwindenlassens; vor diesem Hintergrund hat der Ausschuss die Umsetzung der CPED in Deutschland mehrfach kritisiert und festgestellt, dass die bestehenden Straftatbestände nicht ausreichen, um der Verpflichtung in Art. 4 CPED nachzukommen.
Um dieses Verschwindenlassen zu verhindern, müssten präventive Schutzmaßnahmen greifen. Europa müsste dafür sorgen, dass es gar nicht erst zu einem Verschwinden kommt, z.B. dadurch, das Inhaftierung an geheimen Orten verboten würde oder festgesetzte Migranten ausnahmslos alle grundlegenden rechtlichen Garantien erhalten, was auch einschließen würde, dass sie in einer ihnen verständlichen Sprache über ihre Rechte aufgeklärt würden.
Der UN-Ausschuss weist daraufhin, dass Kollektivausweisungen wie Pushbacks unter den Begriff des Verschwindenlassens des Internationalen Übereinkommens fallen können. Wenn man das so sieht, würde das für die Vertragsstaaten eine Inkriminierungspflicht von solchen Praktiken bedeuten. Wer sich die Zahlen der Pushbacks anschaut, kommt aber zu der Erkenntnis, das es hier scheinbar eine gewisse Diskrepanz gibt zwischen dem, was der UN-Ausschuß inkriminiert und dem, was tatsächlich passiert.
Menschenrechtsorganisationen dokumentieren in einem Bericht 120.457 systematische Zurückweisungen von Migranten an den EU-Außengrenzen im Jahr 2024. Besonders gravierend ist die Situation demnach in Bulgarien, wo 52.534 Pushbacks in Richtung Türkei registriert wurden. Auch andere EU-Länder wie Griechenland (14.482), Polen (13.600), Ungarn (5.713), Lettland (5.388), Kroatien (1.905) und Litauen (1.002) waren demnach für beträchtlich viele illegale Zurückweisungen verantwortlich.
Das Anhalten von Booten und das gewaltsame Zurückschicken von Schutzsuchenden aufs Meer kann nach den Maßstäben des Ausschusses als gewaltsames Verschwindenlassen eingestuft werden, wenn das Schicksal oder der Verbleib der Personen verborgen gehalten wird. Dadurch wird den Flüchtenden der Schutz der Rechtsordnung entzogen – also z.B. keine individuelle Überprüfung ihres Falls, ihres Migrationsstatus und ihres menschenrechtlichen Schutzbedürfnisses. Auch Angehörige können so die Spuren dieser Personen verlieren und lange in Ungewissheit über den Aufenthaltsort der Betroffenen verbleiben.
Die jüngste Mitteilung der EU-Kommission vom Ende 2024, von der Georgia Stefanopoulou sprach, bringt nun die breitere Anwendung der Ausnahmeregelung des Art. 33 Abs. 2 GVK bei „Massenzuströmen“ ins Spiel. Die EU-Kommision sagt, dass es „Sache der Mitgliedstaaten“ sei, „ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen festzulegen und geeignete Maßnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen“. Damit leiste die EU, so Stefanopoulou, gerade menschenrechtswidrigen Praktiken Vorschub, die Menschen entlang der Migrationsrouten zu Opfern von gewaltsamem Verschwindenlassen machen. Daher gilt jetzt die Frage: Sind die Pushbacks, die nun ziemlich regelmäßig an den EU-Außengrenzen stattfinden, nicht in Wirklichkeit ein systematisches Verschwindenlassen? Geht es vielleicht in Wirklichkeit darum, argumentativ eine rechtliche Situation umzudeuten, um Menschenrechte zu beschneiden, ohne dass dies rechtlich angreifbar ist?
Das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung gilt eigentlich nur für einzelne rechtskräftig verurteilte Personen, die aus schwer wiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen sind. Den Versuch der Kommission die Ausnahmeregelung auf den sog. “Massenzustrom“ anzuwenden, weicht diesen Grundsatz auf.