Illustration zweier Flamingos in Ordenskluft

Als im Juli 2024 eine Kugel nur minimal knapp am Ohr von Donald Trump vorbeizischte, so knapp, wie es eigentlich nur geht, nach acht Schüssen, wovon Trump eine zwei Zentimeter große Wunde an der rechten Ohrmuschel davontrug, bevor der angeschossene Präsidentschaftskandidat in Sekundenschnelle den Arm emporriss und seine legendäre Pose einnahm – als an diesem Tag all das passierte, was in ein Campaigning-Drehbuch passte, entwickelten so manche ihre Theorien.

Wie war nicht alles eigenartig. Es konnte doch nicht sein, dass ein 20-jähriger Mann einfach so in die Nähe von Trump kommt, um ihn zu erschießen. War es nicht auch sonderbar, dass der Secret Service, der Trump beschützen sollte, das nicht auf die Reihe bekam, Trump aber sofort nach dem Anschuss in der Lage war, mit erhobener Faust zu posieren und schließlich daraufhin auch noch das ikonische Foto entstand? Das konnte doch nur geplant sein.

Unmittelbar danach blühten die Verschwörungstheorien von rechts wie von links. Die eine Theorie besagte, es sei Joe Biden gewesen, der das orchestriert habe, um Trump bei den Wahlen loszuwerden. Biden habe Trump ermorden wollen. De andere Theorie besagte, dass das Attentat eine „False Flag“-Inszenierung gewesen sei, um Trump als Opfer und Helden darzustellen. Diese Theorien kursieren unter dem Namen „BlueAnon“ im Netz.

Der Terminus BlueAnon beschreibt Verschwörungstheorien, die davon ausgehen, dass Donald Trump an ausgeklügelten Plänen beteiligt ist, die darauf abzielen, die Kontrolle über die  US-Regierung unrechtmäßig zu übernehmen oder aufrechtzuerhalten, sei es allein oder als Objekt der Manipulation durch ausländische Regierungen. Die Blue Anon-Theorien umfassen eine skeptische Betrachtung des Trump-Attentats, aber auch eine eigene Theorie zur Wahlmanipulation mit Starlink. So glauben manche BlueAnon-Theoretiker, dass Donald Trump die US-Präsidentschaftswahlen 2024 manipuliert hat, indem er sich mit  Elon Musk  verschwor, um mithilfe von Starlink-Satelliten die Daten der Stimmenauszählung zu verändern und dann einige der Satelliten in der Umlaufbahn zur Explosion zu bringen, um Beweise für das Komplott zu vernichten. Eine weitere BlueAnon-Theorie besagt, dass  Ivana Trump  von Donald Trump heimlich eingeäschert wurde, um in ihrem Sarg Platz für selbstbelastende Dokumente zu schaffen und diese vor der Entdeckung durch Ermittler zu schützen. Doch zurück zum Attentat. Mehrere Faktenchecker hatten sich an die Verschwörungsmythen gehängt und Analysen gestartet. Die Faktencheck-Seite Snopes hat virale Fotos untersucht und widerlegt, die angeblich Trump bei einer Verschwörung mit dem Schützen Thomas Matthew Crooks zeigen, sowie Behauptungen, Trump sei durch Glassplitter statt durch Granatsplitter verletzt worden. PolitiFact hat Behauptungen widerlegt, das Blut, das nach dem Attentat aus Trumps Ohr zu kommen schien, sei mit einer Blutpille vorgetäuscht worden. Dennoch kursierten viele Geschichten. In einer E-Mail an linksgerichtete Journalisten deutete Dmitri Mehlhorn, ein politischer Berater von Reid Hoffman, dem milliardenschweren LinkedIn-Gründer und Großspender der Demokraten, an, es sei möglich, dass „diese ‚Schießerei‘ gefördert und vielleicht sogar inszeniert wurde, damit Trump die Fotos bekommt und von der Gegenreaktion profitiert. Das ist eine klassische russische Taktik, wie schon Putin 1999, als er  300  Zivilisten tötete und die Schuld Terroristen zuschrieb, um die Gegenreaktion zu nutzen und an die Macht zu gelangen. Auch die Hamas hat diese Taktik übernommen, rohes Übel zu begehen und dann von der Gegenreaktion zu profitieren.

Behauptet wurde hier also, Donald Trump habe, vermutlich mit Unterstützung des US-Geheimdienstes und Sicherheitsapparats, eine Schießerei inszeniert, bei der mindestens zwei Menschen, darunter der Attentäter, ums Leben kamen und er sich beinahe selbst eine Kugel in die Schläfe geschossen hätte – um seine Umfragewerte bei einer Wahl zu verbessern, deren Sieg ihm vor den Ereignissen vom 13. Juli weithin vorausgesagt worden war.

Was kostet ein Präsident?

Das Buch „Die Tesla Files“, veröffentlicht im Beck Verlag, dem Verlag des Grundgesetzes, präsentiert Enthüllungen aus dem Reich von Elon Musk. Es blickt hinter die Kulissen des mächtigsten Mannes der Welt, der sich zwar gerade offiziell aus der ersten politischen Reihe der Trump-Administration verabschiedet hat, aber natürlich noch immer viele Fäden in der Hand behält. Die Tesla-Files, eine Auswertung der investigativen Recherchen der Handelsblattjournalisten Sönke Iwersen und Michael Verfürden, blicken hinter die Kulissen der Firma Tesla, der überwiegend auf einem umfangreichen Datensatz aufsetzt, den ihnen Lukasz Krupski, ein ehemaliger Tesla-Angestellter, zur Verfügung gestellt hat. Das Bild, das dieses Buch von der Firma zeichnet, ist natürlich kein freundliches, fast schon „toxisch“, wenn Probleme auf die Belegschaft abgewälzt werden oder die Sicherheitsprobleme des Autopilotsystem zu wenig in Angriff genommen werden.

Nun gehört es zum Genre des Enthüllungsberichts, dass die Missstände groß sein müssen (sonst lohnt eine Enthüllung nicht), dass Whistleblower zum Einsatz kommen und Begriffe auf den Punkt gebracht werden („Mitarbeiterhölle Tesla“). Immerhin geht es um den ersten globalen Oligarchen. Entsprechend sind die Berichte über haarsträubende Zustände wie ein Blick in die Black Box, man wird neugierig, und es ist den Redakteuren zu verdanken, diese Einblicke zu erhalten. Auch an Anekdoten darf nicht gespart werden: So sollen manche Kundenbeschwerden gegenüber Tesla-Mitarbeitern derart bedrohlich gewirkt haben, dass Tesla-Serviceleuten eine Art „Panic Room“ zur Verfügung gestellt wurde, in den sie sich zur Not flüchten konnten. So weit so schlimm: Vieles, was über das Unternehmen Tesla kolportiert wird, ließe sich wahrscheinlich auch über andere Großkonzerne und Digitalmonopolisten sagen, von daher ist der spannende Teil das letzte Kapitel, in dem es um das politische Engagement des Unternehmers geht.

Nachdem Elon Musk eine zentrale Rolle in der neuen Regierung erhielt, türmten sich viele Fragen auf. Musk hatte es geschafft, so Iwersen und Verfürden: mag jeder andere in Amerika einen Präsidenten wählen, Musk hatte sich einen gekauft. Mehr als 260 Millionen Dollar wanderten in Trumps Wahlkampf, er verwandelte seinen Kurznachrichtendienst X in einer Propagandaschleuder und machte sich an die Entbürokratisierung.

Jedenfalls war die Parteilichkeit Musks klar, seine politischen Präferenzen sind bis in den deutschen Wahlkampf hinein zu spüren gewesen, und es war interessant zu sehen, wie sich Musks Rolle von einem Unterstützer in eine Art Co-Kandidat verwandelte. Je näher der Wahltermin rückte, desto schamlosen wurden Musks Methoden, etwa wenn er Wählern in Pennsylvania 100 Dollar versprach, um eine Petition der Waffenlobby zu unterzeichnen. Wie die Autoren der „Tesla-Files“ schreiben, überholte sie die Realität, und tatsächlich sind einige Fakten des Buches, z.B. der steigende Kurs der Tesla-Aktie nach der Wahlnacht, bereits bei der Auslieferung des Buches von einer noch neueren Realität überholt worden. Vor kurzem krachte bekanntlich das Teslageschäft ein, Musk zog sich zurück und ist wohl doch nicht allmächtig.

Der Einfluss von Tech-Titanen an den Schaltstellen der politischen Macht generell, die sich mit ihren Milliarden einfach eigene Kandidaten kaufen können, ist nicht zu unterschätzen. Auch wenn das Attentat auf Trump allen Analysen nach nicht inszeniert war, so ist es jedoch ziemlich sicher, dass zur Wahl von Trump viele Faktoren beigetragen haben: der persönliche Faktor (die volkstümliche Nahbarkeit), wirtschaftliche Motive, die Angst vor dem „weiter-so“, Vorbehalte gegenüber der Gegenkandidatin, die weltpolitischen Aussichten. Diese ganzen Motive können moduliert werden, sie können auch produziert und verstärkt werden. Das Transportmittel dafür sind Medien. Und Medien unterliegen wirtschaftlichen Prinzipien.

Agenda Cutting – was alles nicht gesehen wird

Neben allen Erkenntnissen zur Situation des Journalismus und der Tatsache, dass Großkonzerne die digitale Informationslandschaft beherrschen, ist ein Teil der Debatte bislang wenig gesehen worden, nämlich die Frage, was alles überhaupt gar nicht in den Medien erscheint. Agenda-Setting, also die Nachrichtenauswahl und-thematisierung ist bekannt; der gegenseitige Begriff, das „Agenda-Cutting“ ist dagegen viel weniger Gegenstand von Betrachtungen. Dabei ist das Agenda-Cutting eine weitflächig geübte Praxis in Medien und Politik, bei der Themen bewusst oder unbewusst aus dem gesellschaftlichen Diskurs entfernt oder herausgehalten werden.

Die Selektionskriterien, nach denen Nachrichten ausgesucht werden, sind gut erforscht: Prominente Akteure werden überrepräsentiert, nationale Nachrichten stehen im Fokus, kontinuierlichen Prozessen wird wenig Aufmerksamkeit geschenkt, da der Neuigkeitswert entscheidet, stereotype Erwartungen werden eher bestätigt und gewaltsame, negative, wertverletzende Tatsachen finden breiten Raum. Es versteht sich fast von selbst, dass komplexe Zusammenhänge kaum thematisiert werden, und wenn ja, nur in personalisierter oder emotionalisierter Form.

Das vergessene Topthema Nummer 1 ist nach Ansicht der Jury der „Initiative Nachrichtenaufklärung“, die jedes Jahr eine Rangliste der Top 10 „Vergessenen Nachrichten“ aufstellt, die Rolle deutscher Rüstungsexporte im Zusammenhang mit Kindersoldaten. Trotz internationaler Abkommen und moralischer Bedenken werden deutsche Waffen in Konfliktgebieten eingesetzt, in denen Minderjährige als Kämpfer rekrutiert werden. Doch in den Medien bleibt diese Verbindung weitgehend unbeachtet. Auf Platz 2 der Liste steht die Situation im Flüchtlingslager Samos. Die katastrophalen Lebensbedingungen auf der griechischen Insel, die Missstände bei der Versorgung der Geflüchteten und die unzureichende Reaktion der EU haben es nur selten in die Berichterstattung geschafft. Den dritten Platz belegt das Verbot von Menschenrechtsorganisationen in Äthiopien. Überhaupt findet Afrika in der Berichterstattung kaum statt.  Weitere vergessene Themen sind z.B. die zunehmende Zahl obdachloser Menschen trotz fester Anstellung oder die Bildungsungerechtigkeit für Pflege- und Heimkinder. Diese Nachrichten wären wichtig, provozieren jedoch nicht die von Verlagen gewünschten Lesereflexe. Hektor Haarkötter, INA-Vorsitzender und Professor für politische Kommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, der auch als Herausgeber des Sammelbandes „Agenda Cutting“ fungiert, sieht eine Nachrichtenschwemme in den Sozialen Medien auf der einen Seite und gleichzeitig eine starke Themenverengung auf der anderen. Aber muss man denn immer alles analysieren?

Nils Markwardt hatte unlängst in der „Zeit“ den Trend zur permanenten Aufarbeitung kritisiert. Es gäbe kaum einen kollektiven Konflikt, so der Redakteur, der nicht von Rufen begleitet wird, ihn im gesellschaftlichen Großgespräch auf- und durchzuarbeiten, am besten mittels Kommissionen oder Ausschüssen. Ob Atomausstieg, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Coronamaßnahmen, Gaskrise oder zuletzt sogar das mäßige Abschneiden deutscher Athleten bei den Olympischen Spielen: Stets solle „alles auf den Tisch“, müsse aus den Fehlern gelernt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Markwardt verwehrte sich dagegen, sieht im permanenten democracy review keine heilende, sondern eine eher schädigende Wirkung.

Wenn Gegenwartskonflikte, so Markwardt, in potenziell unendlichen Aufarbeitungsdiskursen mündeten, trage das nämlich nicht unbedingt zur gesellschaftlichen Befriedung und Akzeptanz bei. Die Probleme könnten durch das ständige Besprechen auch größer werden, es entstehe dann ein chronischer Konfliktüberschuss, der die politische Debatte blockieren kann. Ein großes Diskursrauschen, so Markwardt, in dem der eine darauf insistiert, es müssten nun endlich die Coronamaßnahmen politisch aufgearbeitet werden, während der andere darauf beharre, dass die Cum-Ex-Affäre um Kanzler Scholz ja auch noch nicht vollends aufgeklärt sei und der Dritte die Russlandpolitik der Merkel-Ära durchleuchten will. Also lieber vergessen?

Wohl nicht. So richtig es ist, dass ein alarmistisches Dauerproblematisieren populistische Tendenzen verstärken kann, so falsch ist es, das scheinbar heilsame Vergessen auf alle Themen auszudehnen. Zu viele Probleme mögen den einzelnen Menschen überfordern, die gesamte Gesellschaft sollten wir als lernende Organisation verstehen. Es hat einen guten Grund, dass wir als Individuum normalerweise viele Informationen, die wir einmal gelernt haben, wieder vergessen. Alles, was unwichtig erscheint, lange nicht mehr abgerufen wurde oder emotional nicht von Bedeutung ist, verblasst im gesunden Gehirn nach einer gewissen Zeit. Nur so gelingt es uns, den Fokus immer wieder auf die aktuell relevanten Informationen zu lenken und schnell auf die Umwelt um uns herum reagieren zu können. Vergessen kann gesund sein – wie eine Löschfunktion im Gehirn. Auch im Schlaf kann Vergessen das Gehirn entlasten, und gerade das emotionale Erinnern an negative Ereignisse, das Ängste immer wieder hochkommen lässt, geht im Gehirn mit einer erhöhten Aktivität der Amygdala, des Mandelkerns, einer paarig angelegten Struktur des limbischen Systems, einher. Schlaf und Vergessen entlasten das Gehirn und räumen es auf, der Cortex ist so bereit für die Speicherung neuer Gedächtnisinhalte.

Dennoch ist es wichtig, auch für ganze Gesellschaften, sich Fragestellungen und Analysen zuzumuten. Konfrontation, davon berichtet auch die Psychotherapie, hilft gegen Angst. Durch Traumata ausgelöste Angstkrankheiten lassen sich durch Umlernen therapieren. Wenn man 10 Jahre jeden Abend denselben Weg von der Arbeit nach Hause nimmt, nichts passiert, und man dann überfallen wird, ist der Heimweg nicht mehr wie zuvor. Nun ängstlich geworden wird man einen anderen Weg gehen wollen. Zur Überwindung einer solchen Angstkrankeit gibt es im Grunde nur ein Mittel: eine Konfrontationstherapie. Je häufiger man nach dem Überfall den angestammten Heimweg geht, ohne dort eine Gefahr zu erleben, desto weniger Angst wird man dabei empfinden.

Ähnliches gilt für unsere Informationslandschaft. Der Wunsch, Medien zu kontrollieren, ist eine mächtige historische Konstante, und daher werden Unternehmer wie Musk und andere Medienkonzerne weiter Infrastruktur und Inhalte bestimmen. Als Reaktion auf einseitiges Agenda-Setting und Framing, auf die Vervielfältigung der Kanäle, Algorithmen und Belohnungssysteme kann die Antwort nicht der Ausstieg aus den Debatten sein. Die Frage ist eher, ob man bei Problemstellungen wie Klimawandel oder CumEx nur bei der Problembeschreibung bleibt oder durch die Debatte zukunftsgerichtete Lösungswege produziert werden. Für Vergessen oder Pessimismus ist es zu spät. Die britische Autorin Jodie Jackson vergleicht Medienkonsum mit Ernährung. Man kann mal fasten, aber der Körper benötigt auch gute, kräftigende Nahrung. So heißt es nicht mehr nur „You are what you eat“, sondern auch: „You are what you read“.

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