Archangelsk

Da vorn die Skyline der Arktis

Foto: NASA
Sicht von oben auf die Arktis

Gegen Mitternacht hatten wir, mit etwa 70 Meilen Geschwindigkeit schnell vorankommend, den 20. Grad westlicher Länge erreicht. In der Funkkabine wurde gerade eine Wettermeldung aufgenommen, aus der hervorging, dass westlich von Schottland ein Sturmtief liege und vermutlich in nordöstlicher Richtung weiterwandere. Unter uns tauchten die ersten Gletscher und schneebedeckten Berge der großen, weit zum Nordpol vorgeschobenen Inselgruppe auf, die ihr österreichischer Entdecker Payer nach dem damaligen Kaiser Franz-Joseph-Land getauft hatte.

Die Mittagszeit kündigte sich an. Ich wendete mich den weißgedeckten Tischen des Speiseraumes zu. Der Kommandant änderte den Kurs leicht, und dachte ich an meine eigene schmerzhafte Kurskorrektur, die ich in einer fast unmöglichen Doppelstrategie meinen Beteiligungen zugemutet hatte. Das „Time“-Magazin hatte mich daraufhin nicht mehr zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt mehr gezählt. Als die Performance meiner Firmen einbrach, alle Notfusionen scheiterten und man nur noch von einer Bruchlandung sprechen konnte, unter der die Milliardenhoffnungen meiner Branche zerbarsten, ließ ich mich auslizensieren und flüchtete.

Auf dem weissen Tisch hatte die Bordcrew ein Service des Wiener Unternehmens J. & L. Lobmeyr eingedeckt. Es handelte sich um eine Glaskollektion, die in Zusammenarbeit mit dem Designerduo formafantasma entwickelt wurde. Als Hommage an die große Tradition von Lobmeyr hatten die Designer zwei maßgefertigte Versionen der Bonbonschale, die Oswald Haerdtl 1925 für das Unternehmen entworfen hatte, in die Kollektion aufgenommen. Die Kollektion kombiniert Kristall mit Kupfer und Aktivkohle, um den Geschmack von Leitungswasser zu verbessern. Daneben lag ein Kupferlöffel, inspiriert von dem ikonischen Stück, sowie eine Reihe von Kupferbechern als Referenz an das Trinkservice Nr. 267 „Alpha“ von Hans Herald Rath.

Allein der Kupferfilter, kaum größer als eine Hand, kostete fast 4.000 Euro, verriet mir die Seite des Herstellers, das ganze Set, das auf meinen Tisch stand, war ein Vermögen wert. Diese Stücke, hieß es, spiegeln die von den Designern begonnene Forschung zur Wasserreinigung wider. Die Kristalle waren mit zwei verschiedenen Mustern graviert: Eines zeigt eine neue mikroskopische Ansicht von Bakterien aus Flüssen. Das andere ist die Darstellung eines Organismus aus dem 19. Jahrhundert, der in den Ozeanen lebt und sich durch sein Skelett aus Kieselsäure auszeichnet. Was für ein Quatsch. Und doch: die von meinem unergründlichen Bewußtsein gelenkten Richtungen meiner Neugier wanderten im Geiste zu den Wasserhähnen meiner Wohnungen, die ich belebt hatte. Aus den Hähnen strömte damals mau schmeckendes Wasser mit hohem Salz- und Sulfatgehalt, die durch korrodierte Rohrleitungen geflossen sein mussten, in denen sich ohne Zweifel Verkeimungen und Chlorrückstände befanden hatten. Als ich zeitweilig in einem Schloss lebte, das zuvor jahrelang leer gestanden hatte, quoll eine schlammige Brühe aus dem Hahn. Ja, formafantasma, das Filtern von Wasser ist ein verdienstvoller Anfang, und die Leute wissen nicht mehr, an welche Idee sie sich klammern sollen, wenn sie spüren, wie alle neugeborenen Ideen vermodern.

Ich schaute aus dem Fenster. Was dort im blau-grünen Meer auftauchte, war keine Sinnestäuschung mehr, sondern die Packeinsgrenze. Ich trommelte mit meinen Fingern auf den Kupferlöffel. Alle anderen KI-Überflieger trainierten gerade ihre Sprachmodelle und legten sich mit jedem dahergelaufenen Frühphaseninvestor ins Bett, bauten sich irgendein Prominentennetzwerk auf, um sich am Ende mit ihren exquisiten Anwältinnen in langwierigen Rechtsverfahren zu verheddern – nein, liebe Freunde, ich bin raus.

Vielleicht sollte ich etwas ganz anderes machen. Warum in Lobmeyr-Gläser filtern, wenn man gutes, was sage ich, außerordentlich reines, womöglich das beste Wasser der Welt genießen kann? Wer, in Gottes Namen, der über die üppigen finanziellen Rücklagen verfügt, um ein Lobmeyr-Set in seinen Salon stellen zu können, trinkt überhaupt Leitungswasser?

Eine Idee keimte in mir auf. Seltene Erden sind ein Geschäft, was war mit seltenem Wasser? Wasser aus dem Gletscher? Nicht aus irgendeiner proletarischen artesischen Quelle aus einer Felsspalte in den italienischen Alpen. Norditaliens Luft ist ohnehin verpestet, mit Feinstaub belastet wie an einem polnischen, kohlebeheizten Industriestandort, wie soll da gesundes Wasser  herkommen? Das ist doch alles Marketing. Nein, es müsste Wasser vom reinsten Punkt der Erde sein, fernab jeder Zivilisation, arktisches Gletscherwasser, Eisbergwasser aus der unberührten Arktis, die ja ohnehin schmilzt. Gletscher, das musste man ja zugeben, sind beeindruckende Naturwunder, die einen entscheidenden Einfluss auf die Stabilität des planetaren Ökosystems haben. Die Eismassen spielen eine zentrale Rolle im globalen Wasserkreislauf, da weltweit 70 Prozent der Süßwasserressourcen in Gletschern gebunden sind. Sie speisen Flüsse und versorgen Millionen von Menschen mit Trinkwasser. Besonders wichtig sind Gletscher als Klimaregulatoren. Sie reflektieren das Sonnenlicht und tragen so zur Temperaturregulierung der Erde bei. Genuß und Naturschutz lagen noch nie so dicht beeinander, in meinem Kopf überlegte sich ein Gedanke schon, den Staatsfonds der Arabischen Emirate darauf anzusprechen.

Besonders besorgniserregend ist der Zustand der polaren Eiskappen, deren fortschreitendes Abschmelzen den Meeresspiegel erhöht und somit weltweit Küstenregionen bedroht. Ich hatte einmal von einer Studie der Friedrich-Schiller-Universität Jena gehört, die die Veränderungen eines lokalen Gletschers untersucht hatte, der Teil des weitläufigen Collins-Gletschers auf der antarktischen King George Island ist. Die Analyse der Gletscherflächen im südwestlichen Teil der Insel zeigte einen drastischen Rückzug der Gletscherfronten von 1956 bis 2023. Innerhalb dieser Zeit zog sich die Gletscherfront um rund 375 Meter zurück – das entspricht einem durchschnittlichen Rückgang von 5,6 Metern pro Jahr.

Mein Interesse war geweckt, und ich schaute weiter nach. Die Region rund um die nördliche Polkappe erwärmt sich schneller als der Rest der Welt: Von 1971 bis 2019 ist die globale Durchschnittstemperatur der Arktis um 3,1 Grad Celsius gestiegen. Dies berichtete das „Arctic Monitoring and Assessment Programme“ (AMAP) im Jahr 2021 (Stand: Mai 2023). Die Arktis besteht im Gegensatz zum Kontinent Antarktis aus Meereis, das von Festland umgeben ist. Helles Eis und schneebedeckte Flächen reflektieren Sonnenenergie stärker als das dunklere Meerwasser. Das nennen Forscher auch den Albedo-Effekt. Erwärmen sich Luft und der Ozean, führt das zu einer Kettenreaktion: Schmilzt mehr Eis, nimmt der Ozean mehr Wärme auf und gibt sie langsamer ab. Das wiederum führt zu weniger Eisbildung. Forscher nennen diesen Dominoeffekt „polare Verstärkung“. Markus Rex, ein Polarforscher des Alfred-Wegener-Institutes am Helmholtzzentrum für polar- und Meeresforschung, fasst es unmißverständlich zusammen: Die Arktis erwärmt sich noch viel schneller als der Rest der Welt. Sie ist sozusagen das Epizentrum der globalen Erwärmung, mit Erwärmungsraten, die mindestens beim Doppelten des globalen Erwärmungswerts liegen. Ich musste etwas tun.

Man sollte immer zuerst an sich denken. Ich würde einen Wasser-Sommelier engagieren, der als eingesetzter Geschäftsführer einen Wasserhandel betreiben würde, der international in den Bereichen Wasserdistribution, Beratung und Verkostung tätig wäre. Wir würden gemeinsam ein weltweit einzigartiges Portfolio großartiger Wassermarken aufbauen und in London, New York und Dubai eine Fine Liquid Art Gallery führen, in der – im Dialog mit mehr oder weniger interessanter Kunst – der Kunde und die Kundin erlesene Wassersorten verkosten könnten.

Mit dem Erfolg meiner Unternehmung würde ich mich fortan gemeinnützigen Projekten zuwenden. Vielleicht würde ich Nicholas Sloane kontaktieren. Er ist Südafriker, er lebt in Kapstadt und hat ein anderes Problem: Cape Town entging vor kurzem nur knapp dem „Day Zero“, dem Tag an dem aus Wasserknappheit kein Wasser mehr aus öffentlichen Leitungen tropfen würde. Sloane, Experte für Schiffsbergungen und bekannt geworden durch die Aufrichtung des havarierten Kreuzfahrtschiffes „Costa Concordia“, will bis zu 70 Millionen Kubikmeter große Eisberge nach Südafrika verschiffen. Die Eisberge könnten 800 Meter lang, 400 Meter breit und 220 Meter tief sein, man würde sie mit Folie überziehen, um Verluste durch Schmelzen zu verhindern. Im Anschluss könnten zwei Schlepper von Sloane den Eisberg circa 4000 Kilometer bis zur südafrikanischen Küste ziehen. Am Ende könne er, Sloane, Kapstadt mit 150 Millionen Liter Wasser am Tag versorgen. Dem Mann sollte geholfen werden.

Ich hatte Sympathien für Sloanes Idee, doch sie war mir zu kompliziert. Vielleicht sollte ich Gerhard Schröder anrufen. Was war mit Gazprom? Die haben doch Arktis-Pipelines, also Fernrohrleitungen (Gas- und Erdölproduktleitungen), die auf den vom südlichen Polarkreis begrenzten Territorien verlegt werden. Die Aufteilung der Pipelines in Arktis-Pipelines und Pipelines südlich des Polarkreises ist willkürlich. Die Hauptbesonderheiten der Arktis-Pipelines werden durch die Spezifikas der Klimaverhältnisse, die für dieses Territorium kennzeichnend sind, bestimmt: das niedrige Strahlungsgleichgewicht, durchschnittliche Sommertemperaturen bei 0 Grad und durchschnittliche Jahrestemperaturen im Minusbereich, große Flächen vieljährigen Eisbodens, Verwässerung und starke Versumpfung des Flachgeländes. Verlegt nicht Gazprom eine Pipeline nach China? Könnte ich China mit sauberem Arktis-Wasser flächendeckend versorgen?

Es war Abend geworden. Der Kommandant gab den Befehl zum Steigen. Ich passierte mein artesisches Wasser im Kupferfilter des habsburgerischen Hoflieferanten und trank einen Schluck. Für weitere Überlegungen müsste ich doch eine Due Diligence anfertigen, sagte ich mir, die auch Risiken der neuen geostrategischen Normalität mitberücksichtigte, da Pipelines grundsätzlich der Sprengungsgefahr ausgeliefert sind und mein schönes Arktiswasser in den Atlantik einfluten könnte. Das Konzept hatte noch Schwachstellen.

Zum Artikelanfang