Sehr geehrte Windrad-Lobbyisten,
ich wende mich heute mit einer Frage an Sie. Die Frage lautet:
Was macht Landschaft aus?
Ich bin oft im Oderbruch, einem Landstrich bei Berlin, der schon Großartiges für die Flächenbereitstellung für Wind- und Solarenergie geleistet hat; der Landkreis Märkisch-Oderland hat gewissermaßen sein Plansoll übererfüllt. Der Landrat macht sich damit allerdings nicht nur Freunde. Neulich war ich Zeuge einer kommunalpolitischen Sitzung, bei der sich Windkraftgegner und -befürworter fast an die Kehle gingen. Jetzt, wo Ortschaften bisweilen schon komplett von Windkraftparks eingekesselt sind, liegen die Nerven blank.
Als zum Beispiel zu Beginn dieses Jahres im oberschwäbischen Mittelbiberach neue Windkraftanlagen geplant wurden (ich war zufällig zum Familienbesuch in der Gegend) schaltete sich – nachdem einige Anwohner Befürchtungen über die ästhetische Beeinträchtigung des Landschaftsbildes geäußert hatten – der Vorstand des Energiebündnisses Bad Wurznach in die Debatte ein. Windkraft und landschaftliche Ästhetik? Liebe Freunde, alles eine Sache der Perspektive.
»Es braucht schon ein technizistisch geprägtes Verständnis von Schönheit, wenn man in der „Einschränkung der Flächenkulisse“ einen Zuwachs an Schönheit erkennen wollte.«
„Während einige“, so hob der Vorstandsvorsitzende an, „möglicherweise Bedenken bezüglich der Ästhetik von Windkraftanlagen äußern, halte ich es für wichtig, die Schönheit zu erkennen, die sie mit sich bringen können. Moderne Windturbinen sind oft elegant gestaltet und können ein faszinierendes Element in unserer Landschaft sein. Die großen, neu geplanten Windkraftanlagen wirken durch ihre geringere Umdrehungszahl ruhiger als die bisher bekannten und auch von Bad Wurzach sichtbaren Anlagen in Adelshofen. Ihre sanften kreisenden Bewegungen können sogar eine beruhigende und harmonische Atmosphäre schaffen. Wenn ich bei Adelshofen vorbeifahre, schaue ich mir immer gerne die ruhig drehenden Windräder an.“
Stille im Raum. Nach dieser Schwelgerei appellierte der Lobbyist des Energiebündnisses an das Modernitätsbewusstsein der Bürgerschaft. „Wir leben“, erinnerte er das Publikum mit vertrauensvollem Voiceover, „in einer von Menschen geprägten Kulturlandschaft. Die Wiesen und Äcker wurden von unserer Zivilisation angelegt und unsere Augen haben sich daran gewöhnt. Die Ansicht der Landschaft mit Windrädern ist bei uns gewiss noch fremdartig, aber dringend notwendig. Sie erweitern eigentlich nur unsere bisherig gewohnte Kulturlandschaft. Ja, die Windräder verändern die Landschaft, aber sie zerstören sie nicht. Darüber hinaus sollten wir bedenken, dass die wahre Schönheit der Windkraft in ihren Auswirkungen liegt. Sie bietet eine nachhaltige, unendliche Energiequelle, die dazu beiträgt, unsere Umwelt zu schützen und den Klimawandel einzudämmen.“
Mit 4-5 neuen Windrädern pro Tag, wie sie das Bundeskanzleramt unlängst forderte und mit Gesetzen zur Beschleunigung der Gerichtsverfahren, die dem Bau von Windrädern den Weg ebnen, sind Fakten geschaffen worden für einen großflächigen Umbau der Landschaft. Neben der offensichtlichen Erkenntnis, dass auch Geschäftsinteressen hinter diesem Aktionismus stehen, ist ebenso klar, dass Landschaften durch Windkraftanlagen hässlicher werden. Es braucht schon ein technizistisch geprägtes Verständnis von Schönheit (oder eine fortgeschrittene Form von kognitiver Dissonanz), wenn man in der „Einschränkung der Flächenkulisse“ einen Zuwachs an Schönheit erkennen wollte.
Windkrafträder sind nicht schön, sondern ein notwendiges Übel. Wo aber liegt die Grenze zwischen Notwendigkeit und irreparablen Schäden der Landschaft?
Ich weiss, Widerstand in der Bevölkerung gegen den Ausbau von Windkraftparks gibt es nicht nur in Deutschland. In Frankreich hat der rhetorisch austrainierte Emmanuel Macron, der bis zur Jahrhundertmitte 50 Windparks vor der französischen Küste plant, der zweifelnden Bevölkerung die Technikgeschichte entgegengehalten: Schon der Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert habe diese Angst vor der Landschaftszerstörung ausgelöst, und man sehe sie heute als unbegründet an, warum also Bedenken haben beim Zubau der Windenergie. Was soll man sagen: Du hast recht, Emmanuel, auf der Seite der Modernisierungsverweigerer will niemand stehen.
Der verzweifelte Michael Jäger, langjähriger Redakteur beim „Freitag“, der die Landschaftsveränderung kritisch sieht, hat unlängst einen Ausweg darin gesucht, sich in eine Illusion zu flüchten, sozusagen in eine virtuelle Realität: Er schlägt vor, Windkrafträder einfach ab sofort als kinetische Kunst wahrzunehmen, ja, die individuelle Perspektive derart umzudrehen, in dem Ökologie als Kultur verstanden werden kann. Es müsse, so Jäger, gelingen, sowohl die Natur wie die technische Seite als kulturell überformt zu begreifen oder die kulturelle Form, wo sie nicht mehr da ist, als Kunstform wieder neu zu schaffen. Natur als Kultur sei in unserer literarischen Tradition und auch bildenden Kunst noch präsent genug. Wichtig sei dies auch deshalb, damit die Akzeptanz von Ökologie nicht unter der rein technischen Perspektive leide, in die man sie heute stelle. Zu oft werde, so Jäger, mit chemischen, physikalischen, technischen Kennzahlen um sich geworfen, mit denen wir uns nicht identifizieren könnten, auch wenn wir sie äußerlich wüssten und ihre Funktion und Notwendigkeit kennten. Gäbe es aber Kunstwindräder oder eine Form der Verbindung von Windrädern und Kunst, könnten sie weithin ausstrahlende Leuchttürme kultureller Ökologie sein. „Gab es“, resümiert Jäger, „nicht immer schon öffentliche Architektur, die dazu diente, das Fühlen und Denken der Bevölkerung zu beeinflussen? So etwas brauchen wir noch.“
Das Problem ist damit nicht vom Tisch. Tatsache ist, dass die flächenweite Versiegelung der Landschaft mit Windrädern nicht mit dem Bau römischer Viadukte und Aquädukte vergleichbar ist, die uns als Beispiele der Industriekultur durch ihr Alter und ihre Architektur anrühren. Industrielle Monokulturen behandeln Landschaften wie Fabriken. Der autosuggestive Weg, sich Windkrafträder als Windkraftskulpturen vorzustellen, bleibt eine ironische Pointe der Hilflosigkeit. Selbst wenn man davon ausginge, überall im Land kreativ gestaltete Turbinen installiert zu sehen, Windkraftfiguren auf Hausdächern oder andere fantasievolle mechanische Lösungen – es sind einfach zu viele in Reihe geschaltete Artefakte, die da den Raum verstellen. Eine Anlage wie der Windpark Havelland mit 83 Windrädern wirkt wie der Überfall einer monumentalen Roboterarmee in der märkischen Ebene, die mit ihrer kubischen Massigkeit zu absoluter Unterwerfung zwingt.
Um den seelischen Substanzverlust auszugleichen, ist es allerdings tatsächlich eine wichtige Zukunftsaufgabe, darüber nachzudenken, wie sich technologische Anlagen wie Photovoltaik auf Dächern durch ästhetisch angepasste Lösungen (etwa matte, nicht spiegelnde Kacheln oder Schindeln) besser in bestehende Dachformen einbetten ließen. In der Debatte über die Notwendigkeit von alternativen Energien haben ästhetisch begründete Bedenken, die hauptsächlich auf die Störung des Landschaftsbildes verweisen, jedenfalls kaum Platz. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die grundsätzliche Notwendigkeit der Windenergie als tragende Säule der Energiewende von kaum jemandem angezweifelt wird und der Handlungsdruck hoch bleibt. Ein weiterer Grund mag aber auch sein, dass wir – überwiegend urban sozialisierte Städter – überhaupt keine Vorstellung mehr von Landschaft haben, keinen Bezug zu ihr und damit keine eigene Haltung zur Frage, wie wir uns Landschaft gegenüber verhalten. Welche Bedeutung, welchen Wert hat die „Landschaft“ heute im Post-Carbon-Zeitalter noch?
In diesem Moment der Desorientierung und im Kampf gegen konformistische Tendenzen hilft es, sich Rat bei Persönlichkeiten zu holen, die sich zeitlebens Gedanken zu Landschaftsfragen gemacht haben. Das beste aktuelle Kompendium hierfür bietet die eingangs erwähnte „Anthologie Landschaft“, die bereits in den 80er Jahren von Lucius Burckhardt, dem Schweizer Soziologen und Nationalökonom, begonnen wurde, ein Wissenschaftler, der als Begründer der Promenadologie oder Spaziergangswissenschaft bekannt wurde. Mit dem roten, fast 1000 Seiten umfassenden Band steht dieses Wissen allen Berufen offen, die sich mit raumwirksamen Tätigkeiten befassen, unter ihnen Raumplanung, Landschaftsarchitektur, Gartenbau, Geografie, Architektur und Umweltschutz.
In seiner Anthologie Landschaft geht Lucius Burckhardt (1925-2003) von einem problematisierten Landschaftsbegriff aus. Er fragt: Warum sehen wir die Umwelt als Landschaft und unter welchen Umständen? Das Material zu dieser Diskussion ist in neun Kapitel gegliedert. Die Themen lassen aufhorchen: Im Kampf mit der Natur, Arkadien, Der Blick des Städters über die Stadtmauer, Das Exotische als das Normale, Das Erhabene, Die Reise zum schönsten Ort, Die Wiege der Menschheit, Die Künstlichkeit der Natürlichkeit, Und was sagen die Gärtner?
In vielen Aufsätzen von Lucius Burckhardt tauchte immer wieder die Forderung nach einer zusammenhängenden Wahrnehmung und Interpretation unserer Umwelt und ihrer Geschichte auf. Seine Kritik setzt an den Stellen ein, wo Zusammenhänge in Wissenschaft und Praxis gekappt werden. Der Spezialist als Fachmann braucht immer wieder neue Fachleute, um die Folgen seiner Eingriffe zu beheben. Ein Architekt, Gestalter und Planer, der diesen Gedanken folgt, erkennt, dass er vor weitaus komplexeren Aufgaben steht als angenommen. Die neue Wissenschaft Burckhards, die Promenadologie oder Spaziergangswissenschaft, gründet sich auf die These, dass die Umwelt nicht wahrnehmbar sei, und wenn doch, dann auf Grund von Bildvorstellungen, die sich im Kopf des Beobachters bilden und schon gebildet haben. Der klassische Spaziergang gehe vor die Mauern der Stadt, in die Hügel, an den See, auf die Klippen. Der Spaziergänger durchquert eine Reihe von Orten: die Parkplätze, eine Zone vorstädtischer Siedlungen, Fabriken, Müllplätze, Autobahnkreuzungen, aber auch Wiesen, Wälder, Flusstäler, Bauernhöfe. Am Schluss, nach Hause zurückgekehrt, erzählt der Spaziergänger, was er gesehen hat. Er beschreibt, wie es je nach der Stadt – von der er ausging und in die er zurückkehrte – im Schwarzwald aussieht, im Taunus, im Reinhardswald bei Kassel oder in den Vogesen bei Straßburg. Dabei beschreibt er keinen der durchquerten Orte, den Wald, das Flusstal, schon gar nicht die Fabrik oder den Müllplatz, sondern er beschreibt integrierte Landschaftsbilder. Die Wahrnehmung beruhe auf dem „kinematographischen Effekt des Spazierengehens“.
Das Spazierengehen ist die „natürlichste“ Art, sich eine Landschaft oder eine Stadt zu erschließen. Allerdings spazierten wir heute nur noch selten durch die Welt; selbst wenn wir wandern wollen, steigen wir zunächst einmal ins Auto, das uns in den Wald oder auf den Berg bringt. Hochgeschwindigkeitszüge rücken Städte und Regionen näher zusammen, das Flugzeug bringt uns in wenigen Stunden zu fernen Kontinenten. Wir sind mobil wie nie zuvor, mit Folgen für unsere Wahrnehmung: Wir sehen die Welt im Schnelldurchlauf.
Die innere Problematik der heutigen Landschaftsbetrachtung, und zwar in ihrer konservativen wie fortschrittlichen Ausprägung, besteht weitgehend in der mangelnden Einsicht in bestehende Machtverhältnisse und der Erkenntnis, das wir die Landschaft gar nicht mehr mit kontemplativer Aufmerksamkeit wahrzunehmen in der Lage sind.
Die Anthologie Landschaft versammelt Textfragmente aus den vergangenen mehr als 2000 Jahren. Scheinbar gleichwertig werden die einzelnen Ausschnitte nebeneinandergestellt. Zeitepochen, im engeren Sinn, spielen für die Ordnung keine Rolle. Nichtsdestotrotz interessieren Lucius Burckhardt Modelle, Muster und Regeln. Neben der Weite des zeitlichen Betrachtungsraums bestimmt das Interesse an den Disziplinen die Auswahl. Die Zusammenstellung ist dabei äußerst profund. Texte aus den Naturwissenschaften, den Sozialwissenschaften, den Geisteswissenschaften oder der Theomylogie, die sich mit verschiedenen Formen der Herausbildung der Landschaft beschäftigen, finden im vorliegenden Buch auf selbstverständliche Weise zueinander.
Zusammengestellt wurde das Kompendium von Thomas Kiessling (Jahrgang 1980), einem ausgewiesenen Kenner von Transformationsprozessen der (überwiegend alpinen) Landschaft. Die Textsammlung hält keine konkrete Handlungsanweisung bereit, bietet aber einen Fundus, damit Sie sich, liebe Windkraft-Lobbisten, eine Meinung bilden können.
Den konkreten Problemen der Erhitzung und der schwindenden Biodiversität wird man nicht mehr Herr werden mit einfachen oder vermeintlich effektiven Lösungen. Die rein funktionale Sicht kann heute nicht mehr weit reichen, bei der man Planungsaufgaben im Napoleon-Modus zu lösen versucht („Wie bringe ich die Truppen über den Rhein – man baue eine Brücke!“).
Wir halten mit Burckhardt fest: Ja, Landschaften sind imaginiert und werden von Menschen fortwährend gestaltet. Aber wenn die Umgestaltungsprozesse nicht umsichtig erfolgen, erleben wir beim Anblick unserer Landschaften weiter organisierte Stillosigkeit oder dürftige Monotonie. Lassen Sie es nicht so weit kommen, dass wir alle in virtuelle Welten abwandern müssen, um noch Landschaften sehen zu können, die den Namen verdienen.