Dieser Text ist die Aufzeichnung eines Gespräches, das anlässlich des internationalen Frauentages am 8. März in einem Nebenraum eines Hotels in Paris stattfand. Moderator Christophe Lance hatte, zusammen mit seinem regelmäßigen Gesprächspartner, dem Philosophen Richard Pelley, zwei Musiker der Rockband „Robespierre“ im privaten Rahmen geladen, die in Begleitung ihres Beraters Calvin Serrault kamen. Es ergab sich ein Gedankenaustausch über Fragen der Sexualität. Seit diesem Zeitpunkt haben sich die Geschehnisse entwickelt, die dazu führten, dass das Audiofile, das dieses Gespräch mitschnitt, später nicht mehr auffindbar war. Unser Autor, der an diesem Abend im Hotel (nebenberuflich) Getränke servierte, hat ein Gedächtnisprotokoll übermittelt, das den Gesprächsverlauf abbildet.
Christophe Lance: Ein Mann und eine Frau schlafen miteinander. Inwieweit ist sich der Mann über die Befriedigung der Frau im klaren? Pelley?
Richard Pelley: Nur in sehr geringem Maße.
Lance: Hat er objektive Mittel, sie festzustellen?
Pelley: Ja.
(Man kann nicht klären, welche.)
Lance: Wie denkt Lallemand darüber?
Tyrell Lallemand: Es gibt keine solchen Mittel.
Lance: Serrault?
Calvin Serrault: Das hängt von der Frau ab.
Lance: Haben Sie objektive Bewertungsmaßstäbe?
(Antwortet nicht)
Lance: Laroque, können Sie gegebenenfalls die Befriedigung der Frau feststellen?
Feddo Laroque: Ja, dank verschiedener geistiger Illusionen.
Lance: Nochmal. Ein Mann und eine Frau schlafen miteinander. Inwieweit ist sich der Mann über die Befriedigung der Frau im klaren?
Lallemand: Ich habe da keine Informationsmöglichkeit.
Lance: Welche Informationsmöglichkeit könnte man Ihrer Meinung nach in diesem Fall haben?
Lallemand: Einzig und allein die Aussage der Frau.
Lance: Ist Serrault derselben Meinung?
Serrault: Die Frau kann in den meisten Fällen feststellen, dass es zu einer Befriedigung des Mannes gekommen ist. Es hängt von ihr ab, sie zur Kenntnis zu nehmen. Das ist eine Frage der mehr oder minder aufrichtigen Prüfung des lokalen Zustandes, in dem sie den Mann gelassen hat.
Pelley: Warum glauben Sie, dass diese Überprüfung die einzig zuverlässige ist?
Serrault: Weil das die einzig vernünftige Methode ist, auf die sie sich verlassen kann.
Pelley: Ich bin mit Serrault einer Meinung. Sie hat nur diese Möglichkeit, die Befriedigung des Mannes festzustellen.
Lance: Sie meinen also, dass sich die Befriedigung der Frau und die des Mannes materiell ausdrücken könnte, in der Ausscheidung von Samenflüssigkeiten, die sich vermischen und nicht mehr zu unterscheiden sind, wenn die Befriedigung bei beiden gleichzeitig eingetraten ist?
Pelley: Ja.
Lance: Lallemand, wie stellen Sie sich die Liebe zwischen Mann und Frau vor?
Lallemand: Die körperliche Liebe?
Lance: Natürlich.
Lallemand: Ich stelle mir vor, dass Mann und Frau miteinander spielen oder dass sie 69 praktizieren.
Pelley: Laroque, haben Sie zu diesem Thema irgendwelche Informationen?
Laroque: Nein. Alles was ich dazu sage, habe ich von Lallemand.
Lallemand: Die Frau spürt auf jeden Fall den genauen Zeitpunkt der Befriedigung des Mannes. Der Mann muss sich auf die Feststellung verlassen, dass die Frau erschöpft ist.
Lance: Und wenn die Erschöpfung simuliert wird?
Lallemand: Dann ist der Frau nicht zu helfen. Ich akzeptiere ihr Spiel.
Lance: Serrault, verurteilen Sie alles, was sexuelle Perversion heisst?
Serrault: Keineswegs.
Lance: Welche verurteilen Sie nicht?
Serrault: Keine.
Pelley: Welche Stellungen erregen Sie am meisten?
Lallemand: 69, die Windhund-Position. Pausen in der Box.
Laroque: Die Windhund-Position, 69.
Serrault: Meine Möglichkeiten sind arg begrenzt. Die verschiedenen Stellungen erregen mich gleichermaßen, ebenso wie anderes, was sich unmöglich aufführen ließe. Am liebsten ist mir meine Pollution, während ich aktiv die Fellatio praktiziere.
Lance: Noch einmal die Nachfrage an Lallemand: Wir sprechen von der „schwarzen Box“, derjenigen unter der Bühne?
Lallemand: Der schwarze Raum ist kein Geheimnis, wir haben bei einigen Konzerten bewegte Bilder aus dem Raum übertragen, die für jeden sichtbar oben auf der Leinwand liefen. Im Grunde liebe ich immer auf die einfachste Art.
Lance: Stört Sie nicht die Anwesenheit von 50.000 Zuschauern, während – unten in der Box – eine junge Frau Fellatio an Ihnen praktiziert?
Lallemand: Die Anwesenheit eines aktiven Dritten würde mich stören, die Gegenwart von Voyeuren nicht.
Lance: Ist für Lallemand die Lust des Mannes wichtiger als die der Frau?
Lallemand: Das hängt ganz wesentlich von den Tagen ab. Die Frage ist, welche Schönheiten so in der ersten Reihe zu finden sind. Bevor ich gehe, möchte ich sagen, dass mich an den meisten hier vorgebrachten Antworten ein bestimmter Grundgedanke von der Ungleichheit von Mann und Frau stört, den ich glaube herausgehört zu haben. Für mich ist über körperliche Liebe nichts gesagt, wenn man nicht vorher die Wahrheit akzeptiert, dass Mann und Frau die gleichen Rechte haben.
Serrault: Wer hat das Gegenteil behauptet?
Lallemand: Ich will hier erklären, was ich meine. Die Gültigkeit all dessen, was bisher gesagt wurde, scheint mir in gewissem Sinn in Frage gestellt, weil der männliche Standpunkt ein fatales Übergewicht dabei hat.
Lance: Wenn dem so ist, welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach der Zufall bei der Auswahl von Liebespartnerinnen?
Lallemand: Ich überlasse das nicht dem Zufall.
Lance: Bitte, erklären Sie sich.
Serrault: Lallemand kann sich zu diesem Thema nicht äußern.
Lance: Unter diesen Umständen, Serrault, nur, damit das unter uns klar ist: ist dieses Gespräch geeignet, Lallemand in seinem Ehranspruch zu treffen? Wir sprechen doch nur über die Liebe.
Serrault: Nein, ich denke das hier birgt kein Potential für eine nenneswerte Rufschädigung.
Pelley: Gut, dass wir darüber sprechen. Denken Sie, dass wir aktuelle bürgerliche Moralkonzepte überwinden müssen? Wer möchte antworten?
Lallemand: Ich denke, es ist wichtig für Frauen, aktiv am Musikleben teilnehmen zu können.
Lance: Welche Bedeutung hat das Alter der Frau beim Geschlechtsakt?
Lallemand: Eine enorme Bedeutung. Bestimmte Altersgruppen können mich ganz am Lieben hindern.
Lance: Sind nicht diese Frauen in erster Linie dafür zuständig, zur rechten Zeit sexuell verfügbar zu sein, um Sie mit rekreativen Sex zu entspannen?
Serrault: Ich gebe zu bedenken, dass die Art und Weise, wie Lance seine Fragen formuliert, die Antwort beeinflussen könnte!
Lance: Gut. Laroque, was verstehen Sie unter Ausschweifung?
Laroque: Freude am Vergnügen um des Vergnügens willen. Alles, was maßlos ist, ist gut.
Lance: Billigen Sie das oder lehnen Sie es ab?
Laroque: Ich lehne es ausdrücklich ab (lacht).
Pelley: Glauben Sie, dass die Ausschweifung bei einem Mann dazu führt, dass er unfähig wird zu lieben?
Laroque: Ganz zweifellos.
Lance: Eine Frau, die Sie bewundert, gibt sich Ihnen hin, sobald sie sie begehren. Würden Sie eine Frau, die sie länger auf Erfüllung warten lässt, mehr lieben oder weniger? Lallemand?
Lallemand: Ich glaube nicht, dass sich eine Gradeinteilung für Liebe angeben lässt, die darauf beruht, ob man eine Frau früher oder später besitzt.
Laroque: Ich liebe ganz sicher eine Frau mehr, die sich mir nicht sofort hingibt, als eine Frau, die auf meine Liebe antwortet in einem Augenblick, da diese noch nicht ihre größte Intensität erreicht hat.
Lallemand: Der unmittelbare Besitz scheint mir die perfekteste Lösung auf diesem Gebiet zu sein, und wenn ich es recht bedenke, die Garantie für die Qualität der Liebe. Liebe ist für alle da.
Pelley: Das erinnert mich an „Salo o le 120 giornate di Sodoma“ von Pasolini. Dieser Film, den Pasolini in den faschistischen Marionettenstaat Salo verlegt, thematisiert bekanntlich die sonderbare Vereinbahrung vierer Männer von Rang und Reichtum, die sich in einem Palast an Gekidnappten vergehen. Was folgt sind Vergewaltigungen, Erniedrigungen, Demütigungen. Manche der bedauerswerten Geiseln werden zur Koprophagie gezwungen.
Laroque: Was soll das sein?
Pelley: Überspringen wir, das lässt sich später nachschauen. Jedenfalls: Pasolini thematisiert die Ausübung absoluter Macht über das Opfer, teils gepaart mit größtmöglicher Demütigung (grob vereinfacht).
Serrault: Das geht zu weit, Lallemand ist weder sadistisch noch masochistisch veranlagt.
Pelley: Das weiss ich wohl, ich möchte nur in Erinnerung rufen, dass Lallemand sich – vielleicht auch das gesamte künstlerische Projekt, dem er vorsteht – als freigeistig präsentiert, als Ansammlung von Libertins, die jeglicher Moral abgeschworen haben und herkömmliche sexuelle Normen ablehnen. Ist es nicht so?
Lallemand: Ein freigeistiger Ansatz findet sich bei vielen Künstlern.
Pelley: Ja, aber hier geht es ja darum, dass hemmungslos abartige Ausschweifungen ausgelebt werden. Die Frauen, die Lallemand empfängt, sollen Lust spenden und beglücken, wenn danach verlangt wird. Macht, sagte schon Foucault, besitzt eine enorme erotische Sprengkraft. Serrault?
Serrault: Alles, was die erotische Phantasie an Schund herauswirft, steht heute im Zeichen des Narzismus. Ich halte mich insofern an die rechtliche Seite und stelle fest, dass Pasolini (der übrigens auch im subproletarischen Strichermilieu verkehrte) in seiner Darstellung die Abfolge von Straftaten inszenierte: Vergewaltigungen, Verstümmelungen, ja sogar Mord. Diese Faktenlage sehe ich hier nicht.
Laroque: Wir dürfen auch die befreiende und freudige Funktion von Sexualität nicht vergessen.
Pelley: Pasolini kannte den Satz von de Sade, der besagt, dass nichts grundlegender anarchistischer sei als die Macht. Ist es vielleicht so, dass Lallemand durch die Darstellungen sexueller Perversionen oder Männerträume eine Metapher schaffen will für die wildesten und scheusslichsten Fehlformen der Macht?
Lance: Ich bin da sehr misstrauisch. Ist es nicht eher so, dass Lallemand letztlich junge Frauen nicht nur demütigt, sondern sie auch zu bloßen Objekten und Instrumenten erniedrigt, die ihren Daseinszweck allein noch in der Befriedigung der monströsen Lust des angehimmelten Helden haben? Das ist würdelos.
Pelley: Ich lese die Kunst Lallemands, also die Kombination von Musik mit visuellen Anleihen aus Mondo-, Kannibalen- und Zombie-Filmen, als erschütternden Kommentar auf die Gegenwart, als Abgesang auf alle humanen Werte und ein nihilistisches Manifest.
Lance: Ich wäre neugierig zu erfahren: wie bewusst, Lallemand, war die öffentliche Empörung über Ihre sexuellen Neigungen Teil des Kalküls? Will sagen: Der schwarze Raum, die Kupplerin, die Sie engagierten – das waren ja alles halb-öffentliche, jedenfalls nicht besonders verborgene Spuren, die Sie legten. Die Presse musste ja förmlich darauf stoßen…
Pelley: … und hat die Törtchen ja auch freudig davongetragen…
Lance: Es wurden Anschuldigungen erhoben, die viele aufschrecken ließen, aber wirklich justiziabel wurden sie auf eine wundersame Weise nie.
Pelley: Mir kommt es tatsächlich auch so vor. Die Anschuldigungen reichten genau dorthin, wo sie noch für einen frischen Sturm durch die Presselandschaft sorgten, der im übrigen für das Projekt und die Plattenverkäufe vorteilhaft war, aber sie überschritten nie die rechtlich-kritische Grenze, also genau den Punkt, an dem durch die Aussagen der Betroffenen eine echte Strafbarkeit hätte festgestellt werden können. Das ist schon bemerkenswert. Ausgeklügelt.
Lallemand: Da war nie Kalkül im Spiel. Das ist einfach passiert und hat dann irgendwann eine gewissen Eigendynamik entwickelt. Natürlich haben wir gemerkt, dass es überhaupt nicht schadet, wenn darüber geredet und sich aufgeregt wird. Man ist im Gespräch und die Leute beachten einen plötzlich. Es war ja nicht immer angenehm, was man erzählt oder zu lesen bekommen hat, aber es hat auf jeden Fall nicht geschadet.
Serrault: Nein, mir auch nicht.
Lance: Laroque, eine persönliche Frage zum Abschluss. Welche war Ihre erste sexuelle Erinnerung?
Laroque: Ich hatte die Pubertät hinter mir. Ein älterer Freund, er dürfte etwa 16 gewesen sein, erklärte mir, wie man mit einer Frau schläft. Ich wollte es ausprobieren und lockte ein zenhjähriges Mädchen an; ich versprach ihr ein Bilderbuch, wenn sie mir ihre Genitalien zeigte. Ich versuchte, einzudringen. Sie beklagte sich, dass ich ihr weh täte. Weil ich Angst hatte, allein zu sein, hatte ich meinen neun Jahre alten Bruder mitgebracht; ich überredete ihn, es seinerseits zu versuchen. Er tat es und sie drückte ihn an sich und sagte: „Ich mag Deinen Bruder viel lieber, er tut mir nicht so weh“.