Unsere Phantasie ist ein Triumphbogen. Das ganze Leben zieht durch ihn hindurch. Das Leben des heutigen Wandels und Handels, der Satelliten und Mobilfunknetze, das Leben mit seinen Sitten und Eigenarten. In Deutschland hat man eine besondere Spielart der Phantasie perfektioniert, die man „angewandte Phantasie“ nennen könnte. Deutschland ist das Land der metaphysischen Ingenieure. Hier werden keine globalen Geschäftsmodelle entwickelt, der Deutsche denkt in greifbaren Produkten. Auf der einen Parzelle werden Spielzeugeisenbahnen gefertigt, auf dem Nachbargrundstück Windkrafträder. Man hat für jede Frage des Lebens eine Antwort in Form eines Produktes.
Das ist die klassische Erzählung der deutschen Nachkriegswirtschaftsgeschichte – bis vor kurzem. Die Prosperität der deutschen Wirtschaft wurde auf die Stärke von Industrie und Export zurückgeführt. Es war die (alte) Industrie, die überraschenderweise auch noch in Zeiten globaler Umbrüche lange Zeit fest wie eine Eiche in der Erde ankerte, der kein Sturm etwas anhaben kann. Durfte man das glauben? Vier Dinge wurden dafür zum Beleg angeführt. Erstens eine historisch entwickelte, stark ausdifferenzierte Basis an mittelständischen Unternehmen, die die Industrie stützt. Zweitens ein beruflich organisierter Arbeitsmarkt, der Unternehmen Planungssicherheit gibt. Drittens eine global fast einmalige Basis an technischen Fachkräften. Viertens ein berufliches Aus- und Weiterbildungssystem, das es ermöglicht, früh und schnell auf neu entstehende Qualifizierungsbedarfe mit entsprechenden Ausbildungsberufen zu reagieren.
Diese verzahnte Struktur, die den deutschen Systemorganismus ausmacht, hat jedoch eine Schwachstelle. Sie wirkt wie ein komplex ausgetüftelter Motor, der gut fährt, solange man ihn noch mit Benzin füttern kann. Was aber, wenn das Benzin plötzlich durch anderen Treibstoff ersetzt wird und der Motor wertlos wird?
Die Automesse Shanghai im April diesen Jahres brachte – gewissermaßen symbolisch anhand der deutschen Vorzeigebranche, der Autoindustrie – das Dilemma auf den Punkt: Die Dominanz, Modernität und Innovativität der chinesischen Hersteller, die auf einen riesigen Heimmarkt setzen können, beschleunigt den freien Fall der deutschen Hersteller, und dieser steht nur stellvertretend für viele andere Branchen. Die Kompetenzsteigerungsspirale der Modernisierung an vielen Orten der Welt führt zu der Frage, welche Position Deutschland und Europa in dieser mobilisierten Welt im Ganzen noch einnehmen können.
Das Abenteuer der Moderne hat über Jahrhunderte hinweg ein Kontinuum technischen Lernens, der Kapitalbindung und der Lebensbeschleunigung aufrechterhalten, das heute als lawinenhafte Mobilmachung von Wissen und Technologien ausbricht und Rollen neu verteilt. Der Umbruch kündigte sich vor Jahren nicht nur im Osten an, sondern vor allem im Westen. Das intellektuelle Zentrum dieses Umbruchs fand sich bei Google.
Der italienische Philosoph Alessandro Baricco sieht in Google die Metapher der Gegenwart und das Feldlager einer neuen Wirtschaftsordnung, bei der alles verlinkt ist und eine Sprache gesprochen wird, die die meisten verstünden. Wissen müsse heute immer in Bewegung sein, man solle leicht zwischen den Orten hin und her surfen können, so das spätkapitalistische Paradigma, so würde heute Geld verdient. Wo einmal Vertiefung, Anstrengung, Vervollkommnung als Ideal vorgegeben waren, stünden nun das flüchtige Sich-Bewegen an der Oberfläche, Sequenzen und Verkettungen.
Das Verblüffende an Bariccos Standpunkt besteht darin, dass er diese Mutation gar nicht ablehnt oder fürchtet, sondern als etwas für die kulturelle Evolution Charakteristisches betrachtet. Baricco möchte auf der Seite des Fortschritts stehen, wahrscheinlich nicht nur deshalb, um sich nicht auch in den Chor der resignativen Kulturkritik einzureihen, sondern weil sich die Entwicklung ohnehin nicht umkehren läßt. Umso wichtiger sei es, so die nüchterne Erkenntnis, die zukünftigen Wahrnehmungs- und Umgangsformen mitzugestalten.
Die vierte Industrialisierung
Vor einiger Zeit glaubte man in Deutschland auch wieder auf der Seite des Fortschritts zu stehen. Man war überzeugt, auf die Herausforderungen der globalen Wirtschaftslage mit der Idee der „Industrie 4.0“ eine gute Antwort gefunden zu haben.
Industrie 4.0. war die deutsche Reaktion auf die Digitalisierung. Statt in weltweit skalierbaren Dienstleistungsplattformen zu denken wie im Silicon Valley, wendete man sich der kleinteiligen Verlängerung der Produktionsabläufe ins Digitale zu. Die Deutschen setzten also am Kern ihrer Industrie an, der Produktion, und revolutionierten diese, bevor sie sich im Strudel der globalisierten Wirtschaft selbst atomisiert. Es ging darum, einen Produktionsschub zu erreichen, in dem die Komponenten der Maschinen und Anlagen, die Antriebe, Steckverbindungen und Transportbänder mit so viel „Intelligenz“ versehen würden, dass sie zunehmend autonom agierten. Damit würde nicht nur menschliche Arbeitskraft eingespart werden, sondern auch weitere Routinetätigkeit überflüssig gemacht. Im Ergebnis würde, so die Hoffnung, die Industrie 4.0. über die Industrie hinausreichen und noch größere Veränderungen in unserem täglichen Leben hervorrufen als das Smartphone, weil Industrie 4.0. zunehmend alle Gegenstände des täglichen Lebens erfasste.
Die Absichten der Industrie 4.0. klangen verheißungsvoll. Sie setzten an den einschlägigen Begrifflichkeiten moderner Wirtschaft an und beschwören die nächste Stufe der vernetzten Produktion: Angefangen bei der Idee zu einem Produkt, die nicht nur aus dem Kopf eines findigen Ingenieurs kommt, sondern über das Internet aus dem Markt, von Kunden, von Partnern, vom Wettbewerb, aus aller Welt; über die Produktentwicklung, das Design und die Programmierung, die Tests und Simulation digitaler Produktmodelle bis hin zur virtuellen Inbetriebnahme, denn Daten aus dem Produktbetrieb können nun mit den Daten aus dem Engineering zu einer Beschleunigung dieser Prozessschritte genutzt werden; bis hin zu Services, die nicht mehr nur Kundendienst, Reparatur und Ersatzteillieferanten meinen, sondern zahlreiche neue Dienste von vorausschauender Wartung und Echtzeitkontrolle.
»Industrie 4.0. wirkte wie ein Aufputschmittel und inspiriert Konzerne und Politik.«
Man erkennt schnell, dass wir es hier mit einem Zukunftsprojekt zu tun hatten, das auf die Gedankenspiele von Ingenieuren, Consultants und Technokraten zurückging. Es entstammte der Logik der Industrie. „Industrie 4.0.“ war die Hoffnung auf eine notwendige Anpassungsmutation der deutschen Industrie an die Herausforderungen der Digitalisierung.
All diese smarten Produkte, das smarte Engineering, die Plattformen und Ökosysteme dienten der Effizienzsteigerung, der Schnelligkeit, der Echtzeitinformation, der Schaffung von neuen Geschäftsmodellen. Sie bedienten die klassischen Werte des Kapitalismus: Wo mehr Wachstum geht, soll mehr Wachstum entstehen, wo Einsparungen denkbar sind, wird verknappt, wenn das Tempo angezogen werden kann, geht es noch schneller. Am Ende würde Arbeit durch intelligente Maschinen verrichtet, die den Menschen ersetzen. Damit stand das Projekt in der klassischen Erzählung der Industrialisierung, als vierte industrielle Revolution, nach der mechatronischen Produktion mit Wasser- und Dampfkraft, der Massenproduktion mit elektrischer Energie und der Automation durch Elektronik und IT. Im Entstehen schien die jüngste Welle auf der Basis von cyberphysischen Systemen. Die Aufmerksamkeit, die den Versprechungen der Industrie 4.0. entgegengebracht wurde, verwunderte also nicht. Industrie 4.0. wirkte wie ein Aufputschmittel und inspiriert Konzerne und Politik.
Nach ungefähr 15 Jahren muss man allerdings feststellen: Der Zug ist abgefahren. China zieht am Rest der Welt vorbei und ist auch Spitzenreiter bei industrieller KI. In China setzen nach einer Studie der LMU in München 94 Prozent der Unternehmen künstliche Intelligenz in den eigenen Fertigungsprozessen ein. Die USA kommen hingegen nur auf 46 Prozent, die DACH-Region liegt abgeschlagen bei 20 Prozent. Noch gravierender sind die Unterschiede beim Digitalen Zwilling: In China nutzen 72 Prozent der befragten Unternehmen partiell oder vollständig ein digitales Abbild der gesamten Logistik, das Prozess- und Zustandsdaten erfasst. In den USA sind es 43 Prozent, im Vereinigten Königreich 29 Prozent und in der DACH-Region 25 Prozent. Ein entscheidender Grund für die deutlichen Unterschiede sei jedoch der Mangel an qualifizierten Mitarbeitenden, so das Fazit der Studie. Da dieser sich auf absehbare Zeit kaum ändert, wird der Vorsprung Chinas und der USA sich nicht verringern.
Offline ist das neue Online
Gleichzeitig zu dieser Entwicklung geschieht etwas anderes. Von einem anderen Standpunkt heraus hat man erkannt, dass im Copy-Paste-Zeitalter plötzlich alles, was nicht leicht kopierbar ist, neue Bedeutung erhält. Dort, wo alles digitalisiert und in agile Geschäftsmodelle gegossen werden kann, gewinnen Wissen, Kreativität, Aura, handwerkliche Meisterschaft, Produktions-Know-how und nicht zuletzt eingespielte Wertschöpfungsketten wieder an Wert. Das, was nicht online kopierbar ist, sondern in Menschen und ihren Beziehungen untereinander versteckt ist, bleibt unantastbar und ist damit wertvoll. Offline ist das neue Online, so könnte man diese Schutzlinie zur Allmacht der Digitalkonzerne umschreiben.
Diese Erkenntnis irritiert zunächst, denn, um mit Alessandro Baricco zu sprechen, bedienen sich alle vorherrschenden erfolgreichen Projekte dergleichen Mittel: intensiver Kommerzialisierung, moderner Sprache, Anpassung ans amerikanische Vorbild, Entscheidung für Spektakularität unter Zuhilfenahme von technologischen Neuerungen. Es ist gerade nicht die Abhängigkeit vom Menschen, die die erfolgreichen Projekte der Gegenwart ausmacht.
Was bedeutet das jetzt? Angesichts der schwindenden globalen Bedeutung Europas als Konsum- und Produktionsstandort gilt es, die eigene Rolle zu überdenken, um womöglich ein Level zu erlangen, bei der die digitalen Wertschöpfungspotenziale erschlossen werden können und gleichzeitig der Mensch auf die Reise in eine postkonventionelle Gesellschaft mitgenommen wird: mit Zukunftsbildern, die die Lebensqualität einer nachhaltigen Moderne vorstellbar machen und mit Entwürfen einer anderen Mobilität, einer anderen Ernährungskultur, eines anderen Bauen und Wohnens, kurz: eines besseren Lebens.
Die These ist, dass wir ein neues Qualitätsverständnis für unsere Produkte brauchen, das Solidität, Agilität und Pietät verbindet. Mit Solidität sind klassische gute Produkteigenschaften zu verstehen, die auf die Funktion und Langlebigkeit zielen; diese Eigenschaften brachte man schon über Jahrzehnte mit dem Label „Made in Germany“ zusammen. Mit Agilität ist darüber hinaus gemeint, dass die Produkte eingebettet sein müssen in vernetzte Technologien und Innovationswellen oder sich zumindest auf ein zeitgemäßes Niveau der Herstellung begeben; Pietät schließlich meint in diesem Zusammenhang, eher im antiken Wortsinn, den Respekt vor dem Menschen, als „pflichtbewusstes Benehmen gegenüber Mensch und Gott“. Den Produkten muss eine ethische Komponente eingewoben sein, die ausspricht, dass eine positive Zukunft nicht allein durch neue technologische und ökonomische Möglichkeiten angetrieben wird, sondern zudem von einer kulturellen Leitidee getragen wird: nämlich der Vision, ein gutes Leben für möglichst weltweit knapp zehn Milliarden Menschen organisieren zu können. Die Art und Qualität der Produkte, und mit ihnen zusammenhängend deren Produktion und Konsumption, spielen bei der Gestaltung einer am Leitbild der Nachhaltigkeit orientierten Zivilisation eine große Rolle.
Es geht gerade nicht um die weitgehend menschenleere, vollautomatisierte SmartFactory, wie sie das Konzept der Industrie 4.0. vorsieht, sondern um das Modell einer menschenbedürftigen und menschlich ausgerichteten Produktion, die nicht innovationsfeindlich sein muss. Gesucht wird vielmahr ein zeitgemäßer Begriff von Qualität, des Handwerklichen und der Manufaktur – verstanden als Herstellungspraxis, die bewusst auf industrielle (oder digital-industrielle) Prozesse mit möglichst vollständiger Automation verzichtet.
Die deutsche Wirtschaft wird sich nicht über den Pfad des Handwerk retten und schon gar nicht nur über den hübschen Laubengang des gestaltenen Handwerks. Dennoch schwingt in einer Wirtschaft, die – wie z.B. im Handwerk – auf menschliche, hoch ausgebildete und kreative Individuen setzen muss, etwas anderes mit. Hier beruht Erfolg weder auf dem geknechteten Fabrikarbeiter, noch auf KI. Das Handwerk verbindet historische Formen der Arbeit mit zukunftsweisenden Vorstellungen von Wirtschaft und Zusammenleben. Viele alternative Konzepte beziehen sich mit ihren Ideen von Selbstverwaltung, Arbeitszufriedenheit, Gebrauchswertorientierung, Reparaturfreundlichkeit, Nutzungsverlängerung und ökologischer Produktion auf vorindustrielle Arbeitsformen und damit nicht zuletzt auf das Handwerk. Das Handwerk repräsentiert ein Lebensmodell, das souverän ist.
In der modernisierten Warenwelt gibt es der Tendenz des Marktverlaufs nach keine statischen Güter mehr, sondern nur noch Besserungen – keine stabilen Qualitäten, sondern nur Überbietungs- und Steigerungswaren. In diesem Spiel der konkurrierenden Produkte wurde das Handwerk in den letzten Jahrzehnten aus dem Kreis der Gewinner ausgeschlossen. Es war einfach zu slow. In der jüngeren Generation allerdings, die feststellt, das wir uns zwangsläufig mit den negativen Auswirkungen des modernen Wirtschaftssystems auseinandersetzen müssen, beginnt das Handwerkliche zu einem „Rolemodel“ zu werden für Reallabore und Innovationskeimzellen, die eine nachhaltige Zukunftsgestaltung anstreben. Das Überbietungsspiel des Marktes soll unterbrochen werden, das ist das Ziel der Operation „Konsumwende“. Das Handwerk bietet sich hier mit seinem hochaktuellen Kompetenzbündel aus Geschmack, Erdung und Neo-Humanismus gut als Folie für diesen dissidenten Kampf an.
Noch ist das allerdings das Geheimnis der jungen Maker-Avantgarde. Der Großteil der Bevölkerung versteht unter der Renaissance des Handwerklichen ein Trendbild, das rückwärtsgewandt ist. „Es gibt sie eben noch, die guten Dinge“. Die Losung der romantischen Anti-Moderne produziert sepiafarbene Bilder im Kopf. Wir sehen demütig über ihre Werkbank gebeugte Meister oder Gesellen, Färber und Drechsler und Gerber und Drahtzieher, Glockengießer, Kupferschmiede oder Tischler, die mit Hingabe an ihrem Meisterstück feilen und die Zeit vergessen. Sie produzieren solide Produkte in tradierter Gestalt, die wie ein balsamisches Illusionsmittel wirken, das die überreizte Gesellschaft tonisiert.
Tradition und Traditionsbruch
Tatsächlich gibt es noch einige Kunsthandwerker und Manufakturen, die heute genauso arbeiten wie vor 200 Jahren. Während um sie herum alle anderen beruflichen Gruppen affirmative Anpassungshöchstleistungen an die Gegenwart vollbracht haben, haben manche Handwerker ihre vorindustrielle Arbeitsweise fast unverändert bis in die heutigen Tage aufrechterhalten. Sie sind gewissermaßen Experten der Innovationsresilienz. Das Handwerk heute im Ganzen aber, und ich spreche dabei hauptsächlich vom gestaltenden Handwerk, verändert sich natürlich, und das muss es auch. Manufakturen revolutionieren gerade ihre Produkte, Arbeitsprozesse und Kundenbeziehungen.
Produktportfolios ändern sich, weil schlichtweg Produkte aussterben. Die Manufaktur, die immer Briefmarkenalben produzierte, muss umdenken, weil niemand mehr Briefmarken sammelt. Also werden daraus Notizbücher, denn Notizbücher braucht die Welt, das buchbinderische Handwerk bleibt dasselbe. Eine Glockengießerei kann nicht darauf setzen, auch noch in zehn Jahren mit dem Guss von Kirchenglocken überleben zu können; sie wechselt über zu individuell angefertigten Architekturelementen in Bronze und Eisen. Aus der ehemaligen Schreinerei wird der marktführende Anbieter für Corian-Bearbeitung.
Produktionsprozesse verändern sich, weil auch Handwerker entdecken, dass sie einen Kompromiss aus Kunstwerk und Maschine ausführen können; digitale Techniken wie der 3D-Druck überzeugen bei der Verbesserung bestimmter Arbeitsschritte wie dem Formbau, woran sich allerdings dann wieder händische Manufakturarbeit anschließt. Handwerker verstehen, dass sie das Beste aus beiden Welten kombinieren können.
»Zu sehr haben sie dort das Gefühl, ein Rädchen im Getriebe zu sein..«
Schließlich verändern sich die Kundenbeziehungen. Der Markt findet sich nicht mehr nur vor der Haustür, sondern überall, theoretisch jedenfalls. Praktisch verfügen mittelständische Manufakturen nicht über die Möglichkeiten, sich ohne weiteres international vervielfältigen zu können. Vor diesem Hintergrund werden internetbasierte Verkaufsplattformen oder Customizing-Applikationen interessant. In den aufgeschlossenen Zukunftswerkstätten hat man die Zeichen der Zeit erkannt.
Das Handwerk sucht den Schulterschluss zum Design. Umgekehrt suchen die Designer die Nähe zu Manufakturen, viele von ihnen, die sich ihrem Ausbildungsberuf nach noch „Industrie-Designer“ nennen, arbeiten gar nicht mehr für die Industrie. Zu sehr haben sie dort das Gefühl, ein Rädchen im Getriebe zu sein. Viele junge Designer entdecken ihr Faible für das Kunsthandwerk, ja für die Kunst. Sie stellen fest, dass eine grundsätzliche Trennung zwischen Designern und Kunsthandwerkern eigentlich nicht existiert. Für die griechische Antike umfasste der Begriff der techné sowohl das handwerkliche Können wie auch die technische Findigkeit, meinte also ein Problemlösungsverhalten, das wir heute als Design verstehen. Den Unterschied zwischen Design und Handwerk ließe sich am ehesten in der Denkweise ausmachen zwischen dem konservativen und dem innovatorischen Menschentypus. Beide, Designer und Handwerker, eint heute das Gefühl, in die Debatte um die Konsum- und Wohlstandswende gestalterisch eingreifen zu können mit den Mitteln sinnlich erlebbarer Produkte.
Living Labs für transformative Produkte
Die Konsumwende in absehbarer Zukunft zu schaffen ist das innere Manifest der neuen Handwerker. Sie schließen sich mit den Designern, den Formgebern ebenso wie den Social Designern sowie Social Entrepreneuren, zu einer neuen virtuellen Zunft zusammen. Das Ziel dieser fraternitas (oder sororitas) ist es, in unserer neuen Epoche, die Erdgeschichtsforscher das „Anthropozän“ nennen, Lösungsbausteine für eine lebenswerte Zukunft zu entwickeln. All diese Lösungen bestehen in der Regel aus einer Kombination von technologischen Innovationen, Strategien der Effizienzsteigerung und einer Anpassung unserer Lebensstile. Designer haben verstanden, dass es sich bei den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen vor allem um eine „moralische Revolution“ handelt. Das heißt: Bei den aktuellen Veränderungen geht es nicht einfach nur um einen Erkenntnisprozess, sondern um eine fundamentale Erweiterung und institutionelle Verankerung eines neuen Wertgefüges in der Weltgemeinschaft und darauf basierend um eine Veränderung des moralischen Verhaltens.
Der Philosoph und Historiker Kwame Anthony Appiah hat darauf hingewiesen, dass diese moralischen Revolutionen Phasen durchlaufen. In der ersten Phase der Veränderung wird das Problem ignoriert und der Status quo von der gesellschaftlichen Mehrheit nicht in Frage gestellt. In der zweiten Phase wird das Problem anerkannt, aber kein persönlicher Bezug dazu aufgebaut. In der Phase 3 wird der persönliche Bezug anerkannt, jedoch nicht danach gehandelt. Es werden Gründe genannt, warum kein Handeln möglich ist. Diese wichtige Phase beschreibt Verhaltensänderungen in Teilen der Bevölkerung, da man anfängt, sich für alte Praktiken zu schämen, aber noch nicht von ihnen loslassen kann. In der vierten Phase schließlich wird gehandelt. Hier entsteht die revolutionäre Wandlung. Träger des alten Normensystems verlieren ihre zentrale Stellung im öffentlichen Leben, und Gesellschaften bringen Regelwerke hervor, die den neuen Verhaltens- und Gefühlsmustern zugrunde liegen.
Nimmt man dieses Phasenschema Appiahs, befindet sich die globale Diskussion um den Klimawandel derzeit in Phase 3. Man erkennt die naturwissenschaftlichen Phänomene und zivilisatorischen Problemlagen, kann aber noch nicht handeln, weil die negativen Auswirkungen der aktuellen globalen Wirtschaftstätigkeit nicht unterbrochen werden können. Zu verwoben sind finanzielle Anreiz- und Abhängigkeitssyteme, politische und wirtschaftliche Interessenlagen. Die Konsumwende läßt auf sich warten. Das zeigt sich auch im Privaten, in den aktuellen individualistischen Wohlstandsgesellschaften: hier wird zwar der mediale Publikationsmarkt mit Erbauungsliteratur zu Themen wie Entrümpelung, Entflechtung, Entschleunigung und einer allgemeinen Kultur des Genug überschwemmt, man beginnt sich also für den Wandel zu interessieren, gleichzeitig sind die Formen und Auswirkungen des ethischen Konsums noch sehr überschaubar. Gute, schöne und nachhaltige Produkte, das langlebige Regal oder das Schweinefleisch aus artgerechter Tierhaltung, kosten eben auch etwas mehr.
An diesem Punkt kommen die Manufakturen ins Spiel. Während die Industrie für die großen Nachhaltigkeitsprojekte zuständig ist, für die Energiewende, die Mobilitätswende und allgemein für die industrielle Wende zur Vermeidung weiterer Ressourcenvergeudung, liegt die private Wohlstands- und Konsumwende im Zuständigkeitsbereich der Manufakturen. Die Ernährungswende wurde maßgeblich aus dem manufakturiellen Umfeld angestoßen durch Bio-Betriebe und neue Kooperationsformen. Demeter hat die Industrie nicht erfunden. Genauso verhält es sich mit den anderen materiellen Gütern für den privaten Konsum, bei denen dafür geworben wird, Produkte zu kaufen, die gut und fair produziert werden und nicht den frühen Tod der geplanten Obsoleszenz sterben sollen. Auch der Konsum also, der mit Kennerschaft, Genussfähigkeit und Aufmerksamkeit der materiellen Umwelt gegenüber einhergeht, der qualitätsbewusste und ethische Konsum, wird letztlich durch Manufakturen, die ihre Qualität und ihren Preis erklären müssen, getriggert.
Das kreative Handwerk in zentraler Randlage
Die Konsumwende ist eine kulturelle Wende, die den Kern von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft noch nicht erreicht hat. Die prägende Rolle, die die Manufakturen im Zuge dieses Mindshifts spielen, wird vor allem von der Politik noch nicht erkannt. Wirtschaftspolitische Infrastrukturprojekte gehen am gestaltenden Handwerk vorbei, Fördergelder fließen vor allem in die alten (und auch neuen digitalen) Industrien. Dabei haben wir es mit keiner marginalen Gruppierung zu tun: Hierzulande lassen sich rund 200.000 Unternehmen als kreativ-handwerklich orientierte Betriebe einstufen, die insgesamt um die 580.000 Mitarbeiter beschäftigen. 1 Das ist eine kritische Masse, die das Potential hat, einen Stimmungswechsel einzuläuten. So individuell die unterschiedlichen Arbeitsweisen der Manufakturen sein mögen, sie teilen zumindest die Gemeinsamkeit eines Qualitätsverständnisses, das sich in einer limitierten Produktion niederschlägt. Manufakturen finden sich vor allem im verarbeitenden Gewerbe, aber auch in den Bereichen der kreativ-handwerklichen Dienstleistungen sowie in den Branchen der Nahrungs- und Genusswaren. Dass diese Unternehmen in ihrer Gesamtheit bislang nicht wahrgenommen wurden, hängt damit zusammen, dass die betreffenden Betriebe in den Statistiken ihrer jeweiligen Branche mitgezählt wurden, also nach Produktgruppe sortiert, und da natürlich untergehen. Was aber hat ein Naturkosmetikhersteller mit der chemischen Industrie zu tun, zu der er der Branchenzugehörigkeit nach zugeschlagen wird? Nichts.
Die Manufakturen stehen nicht jenseits der Ökonomie, aber – gemessen am Marktwert von Start-ups und Konzernen – doch am äußeren Rand ökonomischer Zirkulation. Wer eine Manufaktur übernimmt, läßt sich auf eine bestimmte Lebensform ein. So wie das Kunsthandwerk als kleine Schwester der Kunst nie im Rampenlicht des Feuilletons stand, wird Manufakturen in der Wirtschaft kaum Beachtung geschenkt, nicht in den Magazinen, den Lobbyvereinigungen und Konjunkturprogrammen. Viele Unternehmen hatten sich mit dieser Randständigkeit abgefunden und kamen daher gar nicht auf die Idee, Ambitionen zu entwickeln.
Die Wirtschaftswende zum Near- und Friendshoring
Vor gut 100 Jahren enterten Harry Graf Kessler, der weltgewandte Kunstkenner und Diplomat, zusammen mit Henry van der Velde und Hugo von Hofmannsthal, Weimar. Als Antwort auf die veraltete Berliner Kultur- und Industriepolitik starteten die drei Exilanten den Versuch, den Großherzog Wilhelm Ernst (Sachsen-Weimar-Eisenach) für eine Initiative zu gewinnen, bei der Weimar vorbildlich Kunst, Design und Wirtschaft zusammenführen sollte. Kessler und van der Velde bekamen grünes Licht und starteten durch: erst wurde die Weimarer Kunstschule ausgebaut, dann der Allgemeine Deutsche Künstlerbund gegründet, das kunstgewerbliche Seminar von van de Velde erweitert, dem 1907 die Gründung der Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule Weimar folgte. Nachdem 1919 Walter Gropius die Nachfolge von Henry van der Velde übernommen hatte, ging die Kunstgewerbeschule zusammen mit der Kunstschule Weimar im Staatlichen Bauhaus zu Weimar auf. Die Initiative Kesslers und Veldes in Weimar legte also den Grundstein für eine einzigartige kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung, die mit dem Bauhaus als Stichwortgeber für das moderne Design seinen Anfang nahm.
Es wurde in Zusammenhängen gedacht. Van de Velde hatte sich die Aufgabe vorgenommen, die kunstgewerrblichen Industriezweige im Großherzogtum Sachsen-Weimar zu heben, und er ging dazu an die Basis. Das Kunstgewerbliche Seminar begnügte sich nicht damit, „Geschmachsmuster“ zur Weiterentwicklung zu liefern, sondern erstellte Gutachten über die Leistungsfähigkeit der Kunstschlosserei in Berka oder die Zukunft des Korbmacher-Handwerks der Region. Er sah mit scharfer Klarheit, dass es den einzelnen Handwerkbestrieben so erging wie es auch heute vielen geht: sie besitzen nie einen Pfennig. Wenn sich die einzelnen Betriebe aber zu einer Genossenschaft, einem Verein oder Syndikat verbinden, einen Fonds aufsetzen, ein kleines gemeinsames Kapital schaffen, das es ihnen ermöglicht, billiger Rohmaterialien einzukaufen und ihnen ggf. noch der ganze kaufmännische Apparat abgenommen wird – dann öffnen sich Horizonte.
Funktionierende kollektive Strukturen fehlen heute, gesamtheitliches Denken fehlt, Förderstukturen, die die Realtität der handwerklichen Betriebe auffangen, fehlen. Und natürlich fehlt auch Nachwuchs. So muss man die Krise als Chance begreifen: Wenn die exportorientierten Industrien schwächeln, ja vielleicht sogar dabei sind, sich selbst zu marginalisieren, wenn internationale Abhängigkeiten zu Instabilität führen – dann ergeben sich Freiräume für regionale Produktion und damit auch für das Handwerk. Geopolitische Spannungen und die Rivalität zwischen den USA und China sind wesentliche Treiber der Deglobalisierung. Fragen der Sicherheit, Stabilität und politischen Kontrolle rücken in den Vordergrund und verdrängen Überlegungen wirtschaftlicher Effizienz. Der Trend zur Regionalisierung verdeutlicht, wie stark wirtschaftliche Entscheidungen von geopolitischen Realitäten beeinflusst werden.
Globale Produktions- und Handelsstrukturen verschwinden natürlich nicht, aber eine fragmentiertere Weltwirtschaft ist gerade am Entstehen. Konkurrierende Handelsblöcke mit eigenen Standards und Technologien bilden sich. Die Pandemie zeigte die Verwundbarkeit globaler Lieferketten. Konzepte wie Nearshoring (Produktion in geografischer Nähe) und Friendshoring (Verlagerung in stabile Partnerländer) werden interessanter.
Vordergründig kommt es beim Friendshoring, eigentlich einem US-amerikanischen Konzept, zu einer Umstellung von Lieferketten westlicher Industrieländer, die dann einen größeren Anteil ihrer Rohstoffe und Vorprodukte von politisch befreundeten Volkswirtschaften beziehen. Damit entsteht ein Welthandelssystem, in dem politische Differenzen darüber entscheiden, welche Länder miteinander Handel treiben. Die veränderten Welthandelsströme haben Einfluss auf die Wechselkurse und die Handelsdefizite von Ländern, die durch Friendshoring gezwungen werden, mehr Produkte selbst herzustellen.
Gesucht werden – und das kann eben auch Manufakturen und andere handwerkliche Produzenten einschließen – strategische, im Idealfall langfristige Partnerschaften, die auf Zusammenarbeit und gegenseitigem Nutzen basieren. Um diese Partnerschaften erfolgreich zu gestalten, ist es unerlässlich, Vertrauen zwischen den beteiligten Partnern aufzubauen, z.B. zunächst einmal europaweit. Es gilt, über reine Wirtschaftsbeziehungen hinaus gemeinsam eine Zusammenarbeit zu gestalten. Dazu zählt auch der Austausch von Technologien, Know-how und Innovationen. Wie beim Friendshoring eine gemeinsame Wertebasis die Grundlage für die beteiligten Staaten darstellt, so könnten sich um Wertegemeinschaften herum neue Poduzenten-Abnehmer-Strukturen entstehen. Harry Graf Kessler und Henry van der Velde würden heute an einer fundamentalen, aber erreichbaren Umorientierung der Wirtschaft arbeiten.