Illustration einer Trinkhalle
Illustration: Stefanie Vogl

Ab und zu stößt man noch auf sie: kleinere Kioske, Buden oder „Trinkhallen“. Das Phänomen Trinkhalle wurde sogar unlängst zum Immateriellen Kulturgut erklärt. Entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung dienten die Trinkhallen in Deutschland ursprünglich dazu, ausschließlich alkoholfreie Getränke anzubieten. Um die öffentliche Wasserqualität war es schlecht bestellt. Namen gab es viele für diese Kioske: Bude (im Ruhrgebiet), Büdchen (in Düsseldorf, Köln und Wuppertal), Wasserhäuschen (in Frankfurt am Main) oder Budike (in Berlin oder Sachsen).

Der historische Kern der Trinkhalle war also das gute Wasser: So wie in Kurorten die große Trinkhalle zentraler Anlaufpunkt für die Aristokratie war, um innerhalb der Kuranlage das frische Heilwasser zu schöpfen, diente die kleine Trinkhalle in Städten zur Nahversorgung der Bevölkerung mit klarem Wasser.

Der erste Zeitungskiosk wurde 1857 in Paris auf den Grands Boulevards aufgestellt. Martin Gropius entwarf 1861 eine „Berliner Trinkhalle für Selter- und Sodawasser“ als modulare Eisenkonstruktion auf rechteckigem, quadratischem oder oktonalem Grundriss. Ebenda erwirkte später der Buchhändler und Verleger Hermann Stilke die Genehmigung, Zeitungskioske in Berlin zu betreiben und beauftragte den Architekten Alfred Grenader mit deren Entwurf. Diese Kioske wurden bald multifunktionale Orte: So entstanden Kioske, die Zeitungskiosk, Telefonzelle, U-Bahneingang und Verkehrskanzel miteinander kombinierten. Nicht nur Heimatstil-Architekten widmeten sich der Bauausgabe Kiosk, sondern auch die Avantgarde: Alexander Rodtschenko zeichnete 1919 einen konstruktivistischen Kiosk, Ludwig Mies van der Rohe baute in Dessau seine futuristische Trinkhalle, ein Meisterhaus im Kleinen, mit einer scharf ausgeschnittenen, rechteckigen Fensteröffnung. Es ist bis heute, so wertete es der Stadtwissenschaftler Vittorio Magnago Lampugnani, ein radikal zurückgenommenes Juwel der architektonischen Moderne.

Der Niedergang

Heute sind solche Orte rar geworden. Das Trinkhallensterben begann mit der Liberalisierung der Öffnungszeiten von Supermärkten in den 1990er Jahren. Besonders dort, wo einige Geschäfte bis in die Nacht geöffnet hatten, waren Supermärkte eine große Konkurrenz für Trinkhallen, deren Kerngeschäft u.a. die nächtliche Versorgung war. Trinkhallen wurden so Opfer des Strukturwandels.

Es waren eigentlich diese bedeutsamen Belanglosigkeiten, die das Stadtbild insgesamt prägten, und daher ist ihr Verlust durchaus schmerzlich. Wer alte Fotos Pariser Boulevards sieht, erkennt sofort, in welcher Stadt er sich befindet. Die Miniaturarchitekturen sind gewissermaßen das Corporate Design einer Stadt: Fahrbahnbelag, Trottoir, der Randstein. Denkmäler, Brunnen, Straßenlampen, Uhren, Bänke, Sonnenschirme, Zelte und Glasgehäuse, Straßenschilder, Hausnummernschilder, Ampeln, Postkästen, Poller, Hydranten, Briefkästen und Klingelanlagen. Und Kioske. Der italienische Stadttheoretiker Lampugnani hat sie alle untersucht.

Diese ambivalenten, enigmatischen Objekte, so Lampugnani, sind so sehr zu geläufigen, selbstverständlichen Teilen der Stadt geworden, dass wir sie kaum bewusst mehr wahrnehmen. Dabei sind die kleinen Architekturen Fragmente, Indizien, an denen man die Entwicklung der Stadt als Ganzes ablesen kann. Doch der Niedergang der Kioske, und überhaupt der gesamtstädtischen Perspektive der Planung, war nicht auzuhalten. Im Rückblick, so Lampugnani, sei auffällig, wie viele bedeutende Architekten und Stadtbaumeister, also oberste Baubeamte, sich der Kioske und überhaupt der Kleinarchitekturen persönlich angenommen haben. Heute, da es kaum mehr Stadtarchitekten gibt, weil diese Position in der Verwaltung praktisch abgeschafft wird, werden Gestaltung und Unterhalt der modernen Kioske privaten Firmen (z.B. Wall in Berlin) überlassen. Die so entstehenden Kioske mögen funktional und wirtschaftlich sein – die Identität der Stadt prägen sie nicht.

Der Farm Kiosk

Erst mit dem Fehlen solcher Knotenpunkte wird immer deutlicher, was heute mittlerweile abhandengekommen ist: Orte für die spontane persönliche Begegnung, für das kurze Gespräch quer durch die Altersgruppen in der Nachbarschaft. Der große, verwaiste Parkplatz neben dem Einkaufszentrum ersetzt das nicht, ebenso wenig das Instagram-Netzwerk, deren Follower sich an allen Orten der Welt zerstreuen. Am Kiosk gehen alle in der Nachbarschaft vorbei.

Der „Farm Kiosk“, der unlängst von einer ArchLab-Forschungsgruppe des Direktorenhauses vorgestellt wurde, ist die auf heutige Bedürfnisse angepasste Weiterentwicklung der traditionellen Trinkhalle, die sich seit dem 19. Jahrhundert in verschiedenen Städten in Deutschland in lokalen Varianten fand – jene Verkaufsstellen, die Getränke und Dinge des sofortigen Bedarfs (wie Tabak und Süßwaren) anboten und Anlaufpunkt für die Nachbarschaft waren.

Diesen Ursprungsgedanken nimmt der Farm Kiosk wieder auf: mit ihm soll ein städtischer Knotenpunkt geschaffen werden, an dem sich die Nachbarschaft sich auf unkomplizierte Art und Weise mit guten Dingen versorgen kann, und zwar mit Getränken, kleineren regionalen Speisen aus eigenem Anbau, Dingen des täglichen Bedarfs sowie Informationen über lokale Initiativen und Projekte. Entscheidender Faktor für die Neukonzeption der Kiosk-Idee ist vor allem die Schaffung eines „Third Places“ im Viertel – also eines dritten Ortes, der weder vollständig öffentlich ist oder Arbeitsplatz, noch privat und somit einen sozialen Bezugspunkt bietet.

Der Farm Kiosk – ein Leichtbau, der die klassische Pavillonform modern interpretiert und auf öffentlichen Plätzen und in Parks platziert werden kann – erfindet das Kiosk-Prinzip neu und versteht sich als Knotenpunkt des gesellschaftlichen Lebens in den Kiezen größerer Städte. Er verbindet ein Angebot an Getränken und kleineren regional produzierten Snacks mit nachhaltigen Projekten aus der Nachbarschaft: er ist Anlaufpunkt für soziale Initiativen, Umweltprojekte, Konsumalternativen und Maßnahmen der Bürgerbeteiligung, die sich im Radius von ca. 5 km bewegen.

Von der Versorgung zum „Third Place“

Trinkhallen waren immer so etwas wie der Dorfplatz in der Stadt: Man kennt sich, trifft sich, unterhält sich, lebt und teilt. Kioske und Trinkhallen waren immer persönlich und verströmten den Charme des Unperfekten. Authentizität machte sie aus. Atmosphärisch boten die Kleinstverkaufsläden etwas grundlegend anderes als Supermärkte und waren vor allem durch ihren Begegnungs- und Verweilcharakter geprägt. Das Coronavirus hat den sich schon länger abzeichnenden Strukturwandel noch beschleunigt: der Einzelhandel gerät noch stärker in die Krise, der Onlinehandel wächst, viele Arbeiten im Home Office, Ein-Personen-Haushalte nehmen zu und Innenstädte und Stadtteilzentren verlieren ihre gewohnte Funktion, da zahlreiche Versorgungsleistungen in große Marktzentren abgewandert sind. Nachbarschaften werden zunehmend anonym. Diese Herausforderungen für Städte bieten gleichzeitig neue Chancen. Eine Möglichkeit besteht darin, das erprobte Konzept der Trinkhalle wieder zu revitalisieren – in neuer Form und mit zeitgemäßen Inhalten. Die Ankernutzungen der „neuen Trinkhallen“ sind im Kern dieselben wie früher: sie haben sowohl eine Versorgungsfunktion wie auch wieder eine Kommunikationsfunktion. Nur haben sich beide Funktionen gewandelt.

Wenn im 19. Jahrhundert das Hauptanliegen der Trinkhallen die Versorgung der Bevölkerung mit reinem Trinkwasser war, so kann es heute die Nahversorgung mit gesundem Essen sein. Ist das überhaupt nötig? Wissen wir nicht mittlerweile alles über gesunder Ernährung und sind umgeben von hunderten von Fitness-Apps, die uns sagen, was wir tun sollen?

Tatsache ist, dass die uns umgebende Realität völlig anders aussieht. Jedenfalls dann, wenn man – womöglich aus Zeitgründen – nicht ständig selbst kocht und Meal-Prep betreibt. Jemand, der sich täglich (zum Beispiel in der Mittagspause) frisch und gesund ernähren möchte, sieht sich mit einer Realität konfrontiert, bei der hauptsächlich zahlreiche Currywurst- und Dönerbuden, Schawarma-Imbisse oder Späti-Shops mit einer endlosen Auswahl an Alkohol, Zigaretten und Süßigkeiten zur Verfügung stehen. Man könnte auch sagen: der Zugang zu Suchtmitteln und ungesundem Essen ist viel leichter ist als der Zugang zu frischer, gesunder Nahrung. Restaurants, Kantinen oder Lieferdienste können den Anspruch an eine gesunde Mahlzeit ebenfalls nur selten einlösen. In der Gastronomie ist der Preisdruck so hoch, dass kaum eine vielseitige (z.B. gemüsebasierte) Küche mit hochwertigen regionalen Rohprodukten angeboten wird; die gehobene Gastronomie ist wiederum für die alltägliche Bedarfsdeckung für die meisten Menschen schlicht zu teuer. Die kaum genießbare Schulspeisung der Caterer in den Kitas und Schulen muss schon gar nicht erwähnt werden. Viele Schüler laufen lieber gleich zum Spätkauf, um sich mit Süßigkeiten einzudecken. 

Der Farm Kiosk stößt in diese Lücke. Farm-to-Kiosk heißt das Konzept, bei dem der neue urbane Kiosk Produkte aus ländlichen Anbau verkauft. Dabei weiß der Kunde ganz genau, woher das Gemüse oder Korn zum Brot stammt. Ergänzt wird das Sortiment um frische Feinkostsalate, kleinere vegane Gerichte und Produkte des täglichen Bedarfs. Farm-to-Kiosk ist inspiriert von der innovativen Berliner Restaurant-Szene: Einige Gastronomen bieten in ihren Restaurants Gerichte an, die aus eigenem Anbau stammen. Sie wollen ihren Gästen nicht irgendein Nullachtfünfzehn-Gemüse servieren oder Obst, das um die halbe Welt gejettet ist, bevor es auf dem Teller landet. Verwendet werden lieber regionale und saisonale Produkte, und zwar am besten aus dem eigenen Garten: Farm-to-table oder Garden-to-table. Dahinter steckt die Idee, dass die verwendeten Produkte mehr oder weniger direkt vom Bauernhof oder eben aus dem Garten auf den Teller kommen. Ohne über Großmärkte und Zwischenhändler anonymisiert zu werden, und möglichst auch ohne lange Lieferwege. Farm-to-Kiosk überträgt diesen Ansatz auf den Imbissverkauf in der Stadt – ist also eine Mischung aus urbanem Hofladen, Stehimbiss, Apéro-Bar und Pavilloncafe. Es will dem gestiegenen Bedürfnis nach gesunder Ernährung Rechnung tragen und verfolgt gleichzeitig einen kulinarischen Anspruch, den viele Bioläden nicht haben.

Konzeptionell geht es um lokale Produktionszyklen, Kreislaufwirtschaft, ökologischen Anbau und gesundes Essen – vor allem aber darum, dass Menschen in der Stadt frisch und lecker essen können, ohne aufwändig kochen zu müssen.

Der Kiosk als Living Lab des Quartiers

Mit ihrer Kommunikationsfunktion – dem Informieren und Bündeln der lokalen Nachbarschaftsprojekte an einem physischen Punkt in Kombination mit einer besonderen Aufenthaltsqualität – versteht sich der Farm Kiosk (jedenfalls im Konzept) als Reallabor in der Nachbarschaft. Im Kiosk werden über einen öffentlich sichtbaren Bildschirm (digital) und ein „schwarzes Brett“ (analog) aktuelle Informationen über Nachbarschaftsinitiativen und relevante ortsbezogene Informationen zusammengeführt. Kiosk-Besucher können sich vor Ort über alle Aktivitäten im Viertel informieren und sich selbst Gruppen anschließen.

Die Verkäuferperson im Farm Kiosk spielt dabei eine wesentliche Vermittlerrolle: So wie früher die Kioskbesitzerin oder der Kioskbesitzer im persönlichen Plausch mit den Kunden eine Informationsquelle für den neusten Tratsch aus der Nachbarschaft war, so ist auch heute diejenige Person, die den Kiosk leitet, die menschliche Drehscheibe, die Wünsche, Ideen und Projekte zusammenführt.

Der Farm Kiosk ist der Moderator der Nachbarschaft. Viele Initiativen der Nachhaltigkeitstransformation sind oft noch sehr akademisch und verbleiben im kleinen Kreis der Initiatoren – oder sie werden, wie in den Beispielen der Sharinganbieter für Elektro-Roller, von kommerziellen Industrie- oder Plattformunternehmen als skalierbares Geschäftsmodell flächendeckend ausgerollt. Der Farm Kiosk will Nachhaltigkeit in die unmittelbare Lebenswelt der städtischen Nachbarschaft bringen. Der Farm Kiosk setzt dabei auf bürgerschaftliches Interesse. Er will gesellschaftliche Lern- und Reflexionsprozesse anstoßen und einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung des Quartiers leisten. Der Farm Kiosk ist der realweltliche Ausgangspunkt, an dem Nachbarn zusammenfinden und die Nachhaltigkeitstransformation selbst in die Hand nehmen. Der Farm Kiosk bleibt dabei lokal: er ist räumlich und geografisch begrenzt. Gleichzeitig aktiviert er das Potential der Nachbarschaft (Empowerment von Change Agents).

Soziale Initiativen richten sich gegen Kinder- und Familienarmut im Viertel oder an bestimmte Personengruppen wie Obdachlose oder Geflüchtete. Im weiteren Sinne betreffen die sozialen Projekte auch den Generationenaustausch: aktive Versuche, junge und ältere Menschen zusammenzuführen. ist die Auswahl der Tools und die Balance zwischen analogem Atelier und High-Tech-Werkstatt für den Urban Maker Club entscheidend. Die Bühnenwerkstatt – als Verbindung von analogen und technologischen Schaffensprozessen, die auf ein Projekt (Requisiten, Bühnenbild, Vorstellung) hinzielen, kann hier ein gutes Vorbild und Metapher sein.

Der Farm Kiosk selbst kann dem Konzept nach ein regionales Ernährungsprojekt werden, da er sich als Farm-to-Kiosk selbst zu einer nachhaltigen Produktion verpflichtet. Der Farm Kiosk kann aber auch Anlaufpunkt für artverwandte Projekte sein wie z.B. kleine Märkte, Slow Food Convivien oder Marktschwärmereien. Der Kiosk könnte, über seine Versorgungsfunktion hinausgehend auch die Nachbarschaft aktivieren: So könnte er Workshops und Vorträge zur Nachhaltigkeitsbildung präsentieren, um Wissen zum Thema Nachhaltigkeit zu entwickeln und zu vermitteln. Das können Greenpeace-oder Jugendbeteiligungsprojekte, aber auch Workshops, die von Social Designern oder NGOs geleitet werden. Feinstaub und Luftbelastung in städtischen Umgebungen sind ebenso wichtig wie Verkehrsberuhigung oder die Entwicklung von Grünflächen. In den Umweltprojekten engagieren sich die Interessierten für die Verbesserung der Lebensqualität in ihrer unmittelbaren Umgebung. Themen wie Stadtlandschaft, Urban Gardening, Luftqualität, Lärmbelastung und Straßenberuhigung / Kinderstraßen fallen in diese Kategorie. Umwelt- und sozialverträglich hergestellte Produkte zu kaufen, kann politischen Einfluss auf globale Problemlagen ausüben, um die ökonomischen, ökologischen und sozialen Kosten zu minimieren. Entsprechend kann der Farm Kiosk lokale Projekte und Start ups bewerben, die Recycling, faire Produktion oder Produkte mit nachhaltigen Materialien und Produktionskreisläufen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Auch Projekte der Sharing Economy (z.B. der Verleih von Geräten) könnte über den Kiosk abgewickelt werden.

Es braucht Zeichen der Gemeinschaft und der Innovativität im öffentlichen Stadtraum. Was wir sehen, sind Werbetafeln und weitere Werbetafeln, Verbots- und Firmenschilder. Die Gemeinschaft, auch im Kleinen die Nachbarschaft, findet sich im öffentlichen Raum nicht wieder. Der Farm Kiosk (oder wie auch immer man ihn nennen wird) könnte ein solches Zeichen des Aufbruchs sein.

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